Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 18.06.1984

„Seid umschlungen, Millionen!“

Wieviele waren es, die auf dem alten Markt Schillers „Ode an die Freude“ nach Beethovens Noten schmetterten? Es kamen einige hundert Kieler Sänger, und der Platz war dicht besetzt mit Musikern und anderen Menschen. Die meisten schienen gefesselt und gerührt. Doch manche unerhielten sich friedlich weiter. Und einige küßten sich privat, obgleich doch dieser Kuß der ganzen Welt galt. Den Klangzau­berer Klaus Weise störte das alles nicht. Er dirigierte seine Philharmo­niker, die sich in warme Pullover gepackt hatten, in die Hitze des sym­phonischen Finales und ließ sowohl die Solisten aus dem Opernhaus wie das Volksempfinden in schwindelnde Sopran- und Tenorhöhen klimmen: Brüder und Schwestern sie alle — überm Sternenzelt. Beet­hovens Neunte, letzter Satz: Es war eine große Sache, wenn auch mit allen kunstfremden Zutaten der freien Luft. Plötzlich vernahm der Hörer — oben stand er, über dem Markt an einem Fenster — die Begleitfloskel einer beliebigen Klarinette solo. Der Wind hatte sie losgerissen. Oder die Geigen verschwanden im akustischen Nirgend­wo. Dann wieder kam der Klang voll und schön, besonders bei den großen Chorstellen. Der Beifall prasselte wie ein Platzregen. Dann begann es zu nieseln. R. G.

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