Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 14.11.1983

Verdoppelung des Gefühls

2. Kieler Symphoniekonzert — Werke von Bernstein, Liszt und Schumann

KN: ROLF GASKA   Kiel

Klaus Weises Einsatz für Franz Liszt hat wieder einmal Früchte getra­gen. Im 2. Kieler Symphoniekonzert erklingt ein Werk mit dem Titel „Große Phantasie“. Liszt, der Virtuose par excellence, offeriert Franz Schuberts Klavierstück „Wanderer-Phantasie“ als Konzert für Klavier und Orchester. Was zu befürchten ist, trifft ein. Liszt sucht Schuberts Komposition mit ihrem hellsichtigen Pathos und ihren existentiellen Sehnsüchten in der äußeren Wirkung zu steigern. Er verdoppelt gleichsam das Gefühl. Doch diese Verdoppelung bewirkt gerade nicht Steigerung, sondern Verwässerung. Schuberts Wanderer geht nicht mehr durchs Gebirge; er netzt sich am seichten Wasser.

Es sprechen im wesentlichen wohl dokumentarische Gründe dafür, das Werk aufzuführen. Man lernt, daß Gewohnheit und Geschmack in der Konzertpraxis des 19. Jahrhunderts so vielfältig wie heute waren. Schubert à la Liszt, das ist im Prinzip nichts anderes als Bachs „Wohl­temperiertes Klavier“ à la Jaques Loussier oder Strauss' „Zarathu­stra“ à la Deodato: Popularisierung des schwer Zugänglichen.

Die musikalische Substanz der „Wanderer-Phantasie“ erscheint gleichmäßig auf Soloinstrument und Orchester verteilt. Die in Haifa geborene, in den USA lebende Israela Margalit, verheiratet mit Lorin Maazel, vertritt die pianistische Seite. Sie tut es — nicht nur, wenn sie Klavier spielt, — mit weltläufiger Gewandtheit. Ihr Anschlag zeichnet sich weniger durch Größe als durch Eleganz aus. Sie liebt das Rubato, die gefühlvolle Wendung, die perlende Arabeske, das artifizielle Detail. Sie wurde am Sonntagmorgen mit Beifall überschüttet. Die Kieler Philharmoniker und ihr Chef freilich müssen höllisch aufpassen, um dem Klavier auf der Spur zu bleiben.

Begeisternd gelingt Robert Schumanns 4. Symphonie d-Moll. Klaus Weise kostet ihre rasch wechselnden Klang-Charaktere mit Inbrunst aus, und er schürt ihren feurigen Rhythmus. Es wird hingebungsvoll und schön musiziert. Die Blechbläser fallen durch warmen Glanz auf. In der Romanze scheint sich die Musik selbst zuzuhören — ein wun­derbares Erlebnis.

Ganz obenan auf dem Programm stehen Leonard Bernsteins „Chichester Psalms“, 1965 in New York uraufgeführt. Die hebräisch gesungene Kantate für Chor, Solostimmen und Orchester vermittelt in drei Sätzen eine Frömmigkeit, die in Gott und im brüderlichen Mitein­ander ihren Frieden sucht: „Siehe,/wie fein und lieblich ist’s,/wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!“ Zwar kommt zu Anfang eine Strawinsky’sche Härte ins Klangbild und mucken später die „Heiden“ gegen die göttliche Harmonie auf, aber Bernstein läßt die Kirche im Dorf respektive die Tonalität in ihrer Funktion. Freuen wir uns darüber, auch wenn der Komponist ein wenig zu effektvoller Süße neigt. Rund zwei Drittel seines Werks sind auf einen seelentröstenden und ohrenschmeichelnden Wohlklang gestellt.

Zur Aufführung braucht es viele Mitwirkende. Der Städtische Chor Kiel, von Martin Pickard einstudiert, singt — trotz einiger Intonations­probleme mit schöner Klanggebung, meist sehr weich und mitschwin­gend. Ein Solistenquartett aus dem Opernhaus (Karin Calabro, Marilyn Found, Edgar Schäfer und Joachim Seipp) mischt sich gefühlvoll in den leise swingenden, tänzerisch-rhythmisch belebten Bernstein-Sound. Hinzu kommt eine von allen Hörern sofort geliebte Knabenstimme, die Michael Biermann gehört. Diese Stimme, so buchstäblich rein, wie Knabenstimmen sein sollen schwebt über allen Niederungen der Welt und der Kritik. Im Orchester herrscht große Aufmerksamkeit für die anspruchsvolle Partitur. Klaus Weise gibt den Hörern das Gefühl, einem wirklichen Ereignis beizuwohnen. Leonard Bernstein ist schließ­lich nicht irgendwer. Ist er nicht populärer Pianist, Dirigent und Kom­ponist in einem — wie Liszt? Ist er vielleicht der Liszt unseres Jahr­hunderts?

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