Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 03.01.1983

Beschwörung einer Utopie

Kieler Orchester mit Beethovens 9. Symphonie im Schloß

KN: ENNO NEUENDORF   Kiel

Reflektiert die 9. Symphonie Ludwig van Beethovens noch die jetzige Empfindungswelt? Mitnichten. Trotzdem wird sie vom Städtischen Chor Kiel seit 1978 und vom Philharmonischen Orchester Kiel seit 1980 zum Jahreswechsel aufgeführt und findet jedes Mal ein neues Publikum.

Gerade weil die 9. Symphonie jetzt wieder unter Klaus Weise am Neujahrstag als Sonderkonzert auf dem Programm stand, stellte man sie bewußt in jene nicht sehr erfreuliche Tradition einer Feierstunden-Mentalität, für die Beethovens Werke und insbesondere seine als höchstes Kulturgut der Nation angesehene, grenzensprengende Symphonie-Kantate benutzt werden.

Nun liegt die Größe der Neunten auch in deren geistiger Idee die mit Schillers freudetrunkener, alle Welt umarmenden, auf einen nicht nur philosophischen Gott verweisenden Ode, auch das kantische „moralische Gesetz in uns und den gestirnten Himmel über uns“ widerspiegelt. Daß sich daran ein Kollektivgefühl leicht knüpfen kann, mit heller Begeisterung, macht Beethovens Werk andererseits wieder verdächtig. Der jubelnde Taumel wirkt in unserer Zeit verlogen. Des­wegen forderte schon Thomas Manns Romanheld Adrian Leverkühn, die 9. Symphonie „zurückzunehmen“.

Wenn eine Aufführung der Neunten dennoch gerechtfertigt er­scheint, dann nicht aus erbaulichem, sondern nur aus kulinarischem oder geschichtlichem Interesse und in dem Bewußtsein, daß Beet­hovens soziale Utopie kaum eine Chance zur Verwirklichung findet.

Freude kommt dennoch auf: Für mich ist es immer wieder das erstmalige Erscheinen der Freuden-Melodie, wenn das Fagott die Bratschen kontrapunktiert, ein Augenblick höchster Emotionalität.

An Klaus Weises Interpretation, die sich in der Tempogebung nur geringfügig, in der Besetzung gar nicht von der vorjährigen unter­schied, gefiel besonders die Gewichtung, die er den ersten beiden Sätzen als Kontrast zum Chorfinale gab, damit das „Adagio“ mit seinem überlebensgroßen Thema als mittlere Größe im Gesamtgefüge gebührend ausspielte. Die früheren Darbietungen unter Leitung Gillessens waren stromlinienförmiger, ebneten die verschiedenen Sphären zu sehr ein. Das weiß Klaus Weise zu vermeiden, der trotz­dem noch für straffe Rhythmen und einen transparenten Klang sorgt.

Über solche Klarheit in der Stimmführung verfügt auch das Quartett der Sängersolisten, der Bassist Hans Georg Ahrens, der Tenor Jonathan Mack, die Sopranistin Frieda Lindburg und die Altistin Nadine Asher, die durchaus im Sinne Beethovens auch als Individua­litäten erkennbar blieben.

Der über 100 Mitglieder starke Städtische Chor, einstudiert von Georg Metz, war wieder gut in Form und meisterte die Anstrengun­gen, oft in höchster Lage zu singen, mit bewundernswertem Elan. Der Beifall des Publikums ebbte erst nach sechs Minuten ab.

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