Philharmonischer Chor Kiel

Neue Presse Hannover, 01.06.1981

Wie Braunschweig Hannover

in den Schatten stellt

Albrechts großer Sieg mit Mahler

Die Rundfunkübertragung der Mitschnitte hat bestätigt, was wir im­mer angenommen hatten: die Aufführung von Gustav Mahlers Achter Symphonie in der Stadionsporthalle hatte in der Konzeption wie in deren Verwirklichung ein Niveau und eine Intensität, die unter den akustischen Verhältnissen des Saales nur in unzureichendem Maß wahrnehmbar wurden.

Übermittelte jedoch am Freitag der häusliche Empfänger das Dokument eines außergewöhnlichen musikalischen Ereignisses, einer Gesamtleistung von künstlerischer Hochspannung, so waren am Abend zuvor die Besucher der Stadthalle Braunschweig zur Eröffnung des norddeutschen Chorfestes förmlich Zeugen eines überragenden, überwältigenden Erlebnisses.

Für die vielen Mitwirkenden (und die nicht wenigen nachgereisten Zweithörer) aus Hannover war es eine Stunde der Beschämung, daß die viel kleinere Nachbarstadt (für Wolfsburg gilt das ebenso) mit Selbstverständlichkeit bieten kann, wovon Künstler und Publikum in der Landeshauptstadt nur träumen. Ein Welfenschloß für einen solchen Konzertsaal!

Schon die Umgebung machte es, daß, als George Alexander Albrecht das Podium betrat, etwas von jener gehobenen Feierlichkeit sich einstellte, die Bruno Walter einst bei der Münchner Uraufführung empfand. Und am Schluß, Ergriffenheit hatte sich auch und gerade der vielen jungen Hörer bemächtigt, stand der Dank für 90 kaum je wiederholbare Minuten.

Das eindringliche Piano der 500 Sänger beim chorus mysticus und das hochreißende Eindringen der Bläser des Fernorchesters (Mahler verwirklicht lange vor der Quadrophonie die Vorstellung vom Stereo­klang) bezeichnen die Pole dieser Auseinandersetzung von Extremen, dieses Aneinanderrückens von Kirchentradition und Musiktheater: Gesamtkunstwerk.

Hier (der Radiovergleich erhärtet es dann) ist die Verschmelzung von Rundfunk- und Staatsorchester ganz anders geglückt; die pointillierten Farben des Zwischenspiels, die polyphone Inbrunst des Adagio, die getupfte Grazie des Scherzando und, bei Volker Wor­litzschs hinreißender Violine angefangen, die Soloprofilierungen nur als Beispiel.

Einziger Schönheitsfehler im Riesenvokalaufgebot: der Knaben­chor, zu hoch plaziert und in Stoff gebettet, klappte um Sekunden­bruchteile nach und ging beim Gretchenauftritt im Orchester unter. Sonst kann den Chören aus Hannover, Kiel, Oldenburg, Wolfsburg samt ihren vortrefflichen Aufbereitern nur hochachtungsvoll pauscha­les Lob gezollt werden.

Zu verstehen jetzt die Solisten: mächtig freilich mit viel Vibrato Sabine Hass, sehr fein Kumiko Oshita, prachtvoll ausgeglichen Marita Dübbers, eindrucksvoll konturiert Sharon Markovitch, höchst kantabel Heinz-Jürgen Demitz, um Grade gesteigert Robert Holl. William Johns: Widerlegung von Adornos Furcht vor widernatürlich hohen Tönen von Tenören.

Auch wer meint, Mahler habe (wie Beethoven) sein Bestes und Eigentliches in der Instrumentalmusik gegeben, konnte sich der Suggestivkraft dieses Gipfelssturms nicht entziehen. Der Höhepunkt im Leben des Komponisten warf seinen Widerschein auf die Beteilig­ten, die George Alexander Albrecht konzentriert zusammenhielt und zu Enthusiasmus beflügelte.

Um diesen Triumph mitzubekommen, mußte der Kritiker nach Braunschweig reisen. Zeit unterwegs, das Versäumnisregister hannoverscher Kulturpolitik nachzublättern: kein Schauspielhaus, Konzertsaalmisere, ein akustisch mißratenes Opernhaus, ein benachteiligtes Staatsorchester, das Erfolgserlebnisse außerhalb holen muß.

Reimar Hollmann

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Siehe auch ac / Lie oder Rolf Heckelsbruch

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