Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 15.02.1978

Sinfonische Genesis

Mahlers Dritte im 5. Kieler Sinfoniekonzert

Von Susanne Materleitner

Skepsis schien angebracht: Mahlers Dritte, dieses komplexe Rie­senwerk mit seinen enormen instrumentalen und geistigen Anforde­rungen, musiziert von einem Orchester, das, wie man hört, mit seinem GMD nicht in bestem Einvernehmen steht, auf die Dauer sogar Quali­tätsverluste durch ihn befürchtet; der Dirigent selbst in seinem Hand­werk noch nicht sehr erfahren — konnte das gutgehen? Es ging gut, jedenfalls weit besser als Skeptiker befürchtet hatten.

Während der Entstehung dieser d-Moll-Sinfonie schrieb der Komponist im Sommer 1896 an die Sängerin Anna Bahr-Mildenburg: „... Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Traume ahnt!“ Die programmatischen Titelskizzen zu den sechs Sätzen hat er später zurückgezogen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Mit Recht. Denn Satztitel wie „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“ oder „Was mir die Liebe erzählt“ könnten auch heute noch von einem Teil des Publikums allzu wörtlich genommen werden. Mahler hat sie nie wörtlich gemeint; ihm war seine Dritte ein sinfonischer Nachvollzug der Schöpfungsgeschich­te: Weltanschauungsmusik. Nur Struktur und Form darin zu hören, wie es heute von Fachleuten oft empfohlen wird, erscheint mir allerdings falsch; gerade jetzt, da man sich in der Interpretation von Monteverdi bis Mozart wieder auf historische Bezüge besinnt, hat auch das gebrochene und überstilisierte Pathos Gustav Mahlers seinen Stellenwert.

Walter Gillessen hat dieses Pathos nicht verleugnet, aber auch nicht strapaziert. Seine stereotype Schlagtechnik hat sich zwar kaum verändert, und doch erreichte er hier oft wunderbare, ungemein differenzierte Effekte. Vor allem in den grandiosen, fast geologisch anmutenden Schichtungen und Schiebungen des gewaltigen ersten Satzes, die sich aufeinander türmen und aneinander reiben, ausein­anderbrechen und sich zusammenfügen in jenem „ewigen Wandel des Lebens“, den man im Aufbruch des Jugendstils verherrlichte und dessen Apotheosen allemal in einem mächtigen, optimistischen Fortissimo münden.

Gillessen übertreibt nicht. Er ist bescheiden, sucht keine „eigene Deutung“, läßt spielen, was in den Noten steht, gerät weder in Ekstase, noch in Abstraktion oder gar in Gleichgültigkeit. Auch hat er eine prächtige Kondition, vermag Spannung (hier, wo sie ihn offen­sichtlich selbst in Atem hält) auch dem Publikum mitzuteilen.

Von drohendem Qualitätsverlust des Orchesters war an diesem Abend nichts zu bemerken. Wäre dieses Orchester seinem Dirigenten gegenüber unfair, so hätte es ihn gerade hier leicht abservieren können. Jede Gruppe musizierte sauber, engagiert, fühlte sich, wie sich’s gehört, als Teil des Ganzen. Das Blech hatte einen großen Abend (schöne Posaunenterzette, diffizile Solotrompete, herrliches Posthorn-Solo), nicht minder das Holz (Oboe und Flöte vor allem). Die Streicher atmeten wunderbar mit, und die groß besetzte Schlagzeug­gruppe bestand prachtvoll. Mit warmem beseelten Timbre, einfach und ausdrucksvoll, sang Patricia McGaffrey von den Bühnen der Lan­deshauptstadt die Altpartie im 4. und 5. Satz. Der Kieler Knabenchor und die Damen des Städtischen Chores gaben dem 5. vokalen Spaß und Glanz.

Wer solche Musik konzentriert hört, wird von ihr strapaziert. Diese Strapaze indes nimmt gerne in Kauf, wer zuhören kann.

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