Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 04.04.1972

Golgatha und Auschwitz

Zur Aufführung von Bachs Matthäus-Passion im Kieler Großen Konzertsaal

Bachs Matthäus-Passion im Konzertsaal — dieses Hauptwerk christlichen Selbstverständnisses in einem säkularen Raum? So paradox es klingen mag — gerade durch die Verlegung in den inadäquaten Konzertsaal und durch die harte Konfrontation mit Schönbergs schmetternder Anklage des „Überlebenden aus Warschau“ verliert die Passion an ästhetischer Bewertbarkeit, gewinnt sie ein Maß an moralischer Kraft und Wirksamkeit neu hinzu, die man diesem erbarmungslos vermarkteten Stück nicht mehr zugetraut hätte.

Hans Zender setzte schon in der räumlichen Verteilung, der strik­ten Trennung in zwei Chöre und Orchester, deutliche Akzente, der dramatischen Zuspitzung in Rezitativ und Turba-Chören fielen, beson­ders im zweiten Teil, einige mehr kontemplative Alt- und Baßarien zum Opfer. In der Auswahl seiner Solisten ging Zender ebenfalls eigene Wege. Er verzichtete auf eine Garde alterfahrener, durch Dutzende von Aufführungen erprobte Passions-Spezialisten, die zwar einen reibungslosen Ablauf des musikalischen Geschehens zu garantieren vermögen, doch meist wenig variable Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, zumal ihre Sensibilität unter der Routine zu leiden pflegt.

Schiffbruch erlitt Zender nur in einem Fall: mit Martin Häuslers Evangelisten konnte man sich nur sehr schwer befreunden — sein weich-schwingender, strahlender Tenor bewies in den Arien und ariosen Teilen die bekannt hohen Qualitäten, doch litten die Rezitative unter flatternd-unruhiger Stimmführung und zunehmenden kleinen Unsauberkeiten — klare Deklamation, Subtilität in der Färbung und Akzentuierung — hierin scheint der hervorragende Opernsänger überfordert, scheint die Arbeitsteilung nicht wieder aufhebbar.

Die Frauensoli sangen Benita Valente und Hildegard Rütgers mit kantabeledlen Stimmen, die zwar klein, aber sorgfältig geführt waren. An subtiler Stimmfärbung, ansatzloser Phrasierung, perfekt-weicher Klanggestaltung und gleichmäßig-strahlender Stimmgebung in allen Registern war die Sopranistin kaum zu übertreffen; zu einem Höhe­punkt wurde — trotz nicht gerade souveräner Instrumentenleistung — ihre Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. Hildegard Rütgers hatte zu Begin etwas Durchsetzungsschwierigkeiten in der Tiefe, bisweilen hätten auch die vor ihr sitzenden Obligatinstrumente (besonders Oboe da caccia) mehr abgedämpft werden müssen, doch dann entwickelte sich ihre ruhig-strömende, warme Altstimme sehr schön, zumal sie Forcierungen, die häufig in unkontrolliertes Tremolo umschlagen, klug vermied. Roland Hermann sang mit noblem Bariton und starkem Engagement die Christusworte, und Hans Sotin präsen­tierte für die Stimmen des Judas, Petrus und Pilatus sowie für die Baßarien profilierte Kraft und stimmliche Sonorität.

Sehr sorgfältig einstudiert waren der durch Choristen der städti­schen Bühnen verstärkte städtische Chor und der Kieler Knabenchor. Lothar Zagrosek und Guntram Altnöder hatten hier gute Arbeit geleistet. Klangliche Fülle, dynamische Sensibilität und Spannweite, saubere Intonation und präzise Konzentration bewiesen das Engage­ment und die Fähigkeiten der Mitwirkenden. Sehr sicher begleitete das Philharmonische Orchester Kiel, virtuos musiziert waren die zahlreichen Soli der Holzbläser und der beiden Soloviolinen (Lothar Ritterhoff, Ursula Götz); zu einem Höhepunkt wurde das kammer­musikalische Miteinander von Oboe, Tenor und Chor in der Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“. Dr. Wilhelm Pfannkuch am Continuo-Cembalo gab den Rezitativen — mit Edmund Nentwig, Violoncello, und Paul Kuhlmann, Kontrabaß — sichere harmonische und rhythmische Stütze. Hans Zender hielt den großen Klangkörper mit betont unauf­wendigen Gesten sicher zusammen, seine Koordinations- und Inte­grationsleistung wirkte so selbstverständlich, daß sie hinter dem Werk zurücktrat.

Mehr in Aktion trat Zender bei Schönbergs „Überlebenden von Warschau“. Hier verliert das Wort Adornos, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, ihren Grund — der Zweifel, ob solch grausames Geschehen komponierbar sei, schwindet mit dem Werk, dem gleichwohl Gelungenheit zu bescheinigen, zynisch wirkt angesichts der Geschehnisse, auf die es anklagend reagiert. Roland Hermann gab dem Sprecher bisweilen all zu viel kantable Glätte, die tödliche Gefahr des Banalen kann hier über die künstliche Überstei­gerung an Wirkung verlieren. Männerchor und groß besetztes Orchester setzten sich mit deutlich spürbarem inneren Engagement für dieses Memento ein. WULF KONOLD

Anmerkung:

Der Rezensent verschweigt, dass Zender Schönbergs „Überleben­den von Warschau“ zwischen den beiden Teilen der Matthäus-Passion in direktem Kontrast aufführte, wodurch die oft gehörte Passion eine ganz neue erschütternde Wirkung erfuhr. Se

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