Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Nachrichten, 30.10.1969

So große Scheu vor Anton Webern?

Zweites Sinfoniekonzert unter Hans Zender —
Halina Lukomska zu Gast im Kieler Schloß

Ein abwechslungsreicheres Programm, als es im zweiten Sinfonie­konzert der Stadt Kiel und des VdM angeboten wurde, läßt sich kaum denken. Mit Schauspielmusik, Liedern und einem schönen Instrumen­talstück näherte es sich fast schon der Ausstattung eines Bunten Abends, zumal auch eine kleine Conférance nicht fehlte: Hans Zender zitierte Strawinsky. Doch all solche Liebesmüh fruchtet anscheinend nur im Verein mit Beethoven und Brahms. Sobald Namen wie Anton Webern und Gustav Mahler auf den Plakaten stehen, bleiben im Kieler Schloß so viele Stühle leer, daß dem VdM-Vorstand die Haare grau werden müßten, wenn sie es bei den meisten seiner Mitglieder nicht schon wären.

Zum Run auf die Kassen hatte auch das populäre Zugstück des Abends, Franz Schuberts Musik zum Schauspiel „Rosamunde“, nicht beitragen können. Obgleich die Reihe von elf Nummern, die Zender auf sieben reduzierte, im blumigen Konzertführer-Jargon als „bezau­bernde Gabe des Schubertschen Genius“ und „edelste Volksmusik in vollendetem künstlerischen Gewande“ (Hans Renner) gepriesen wird, füllte sie weder den Saal noch animierte sie das Publikum zu mehr als mattem Beifall. Selbst eine so hingebungsvolle Interpretation, wie sie Hans Zender, die Sopranistin Halina Lukomska und der von Lothar Zagrosek einstudierte Städtische Chor der romantischen Antiquität zukommen ließen, reichte nur zu einer freundlichen Empfehlung. Gemessen an Schuberts Sinfonien, seiner Kammermusik und seinen Liedern halten hier allenfalls die Ouvertüre und zwei an die „Impromptus“ und „Moments musicaux“ anklingenden Instrumental­stücke den kompositorischen Standard. Sopran-Romanze, Hirten- und Jägerchöre kann man sich vollends schenken. Indes — es muß ja nicht immer alles hochkarätig sein, und warum soll man nicht auch einmal Blätter aus einer Schatulle zeigen.

Als hochkarätig erwiesen sich dagegen einmal mehr Anton We­berns Lieder op. 13 nach Lyrik von Karl Kraus, Georg Trakl und nach Gedichten aus Bethges „Chinesischer Flöte“, eine Anthologie, die auch Gustav Mahler im „Lied von der Erde“ herangezogen hatte. Vorzüglich zeigte Zender, wie es hier auf zarteste und differenzier­teste Spielweise innerhalb eines solistisch besetzten Kammerensem­bles ankommt, um den stets nur kurz aufschimmernden kostbaren Klangfarben ihren Reiz abzugewinnen. Und glänzend gelang es Halina Lukomska, die Lieder nach ihrem musikalischen und emotionalen Gehalt auszuschöpfen, ohne ihnen ihr Geheimnis zu nehmen.

Spätestens die Wiederholung der vier Gesänge, die Sängerin und Dirigent dem Publikum zur Vertiefung des Eindrucks gewährten, ließ allerdings erkennen, daß ein erklärendes Wort nicht unnütz gewesen wäre. Wenn sich Zender schon entschließt, den Dialog mit seinen Zuhörern aufzunehmen, dann erwaten diese nicht bloß ein handliches Zitat, sondern konkrete Auskünfte, nicht Überredung, sondern Ein­sicht. Um wieviel einfacher wird beispielsweise der Zugang zu den Webern-Liedern, wenn man einmal auf illustrative Elemente achtet, etwa auf ein Spiel von Lichtern („Weißen Glanz malte der Mond“) oder auf melismatische Gesten der Singstimme („Golden blüht der Baum der Gnaden“). Man könnte auch zeigen, wie der Text vom Komponi­sten interpretiert wird, etwa am Beispiel der letzten Zeile von „Die Einsame“, wo das Wörtchen „bin“ scheinbar manieriert herausge­hoben ist, in Wahrheit aber erst dem Gedicht seinen Sinn gibt. An Konkretheit, der von Webern verfochtenen, muß es dabei nicht fehlen, wenn Sängerin und Musiker zur Verfügung stehen.

Noch einmal erklang im letzten Teil des Konzerts Halina Lukomskas klare Stimme mit fast instrumentalem Timbre, mit sicherem Griff nach Tonhöhe und Ausdruck: Im vierten Satz der vierten Sinfonie von Mahler sang sie die ebenso schalkhafte wie paradiesische Weise vom „himmlischen Leben“, ein Lied aus der träumerisch- humoresken Wunderhornwelt. Zender (der übrigens gestern nach Berlin flog, um dort anstelle des erkrankten Eugen Jochum einen Beethoven-Zyklus zu dirigieren) gab der Sinfonie formbewußte, aber auch von Zunei­gung geprägte Deutung. Wie Mahler im ersten Satz ein Haydn nach­empfundenes Thema subjektiv verwandelt und ausweitet, wie er im Scherzo mit dem scharf gezeichneten Violin-Solo Zerrissenheit andeu­tet und wie er im Adagio die Farben mischt: man vermochte es nach­zuvollziehen und darüber hinaus ein Werk einzuschätzen lernen, das in diesen Breiten viel zu wenig gespielt wird.

Der starke Beifall galt auch dem Orchester, das in allen Instrumen­talgruppen Hervorragendes geleistet hatte. ROLF GASKA

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Siehe auch Raimund Schneider

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