Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 02.01.1964

Die neue Neunte

Zur Silvester-Aufführung unter Peter Ronnefeld

Wollte ich über die diesjährige Aufführung der Neunten Sinfonie von Beethoven ein verbindliches Urteil abgeben, wäre dies Vermes­senheit: Wer, wie ich, im vordersten Parkett der Ostseehalle rechts­außen saß, hat keine Neunte gehört, sondern nur einen Torso des Werkes, nur einzelne Orchesterstimmen: eine sehr laute Pauke, knallendes Blech, überbetont deutliches, unangemessen im Vorder­grund stehendes (nebenbei wunderschön gespieltes) Holz, dazu Streichergemurmel, wobei die ersten Violinen nicht mitmurmelten, sondern nur zu sehen war, daß auch sie an der Aufführung beteiligt waren. Aus anderen Teilen der Ostseehalle berichteten Zuhörer von ähnlichen oder anderen merkwürdigen Höreindrücken. Mit anderen Worten: Wo 110 Mitglieder der Berliner Philharmoniker die akusti­schen Miseren dieser Halle noch halbwegs überspielen können (wenngleich auch bei ihnen ein Streicher-Fortissimo höchstens wie ein Mezzoforte klingt), saß das Städtische Orchester Kiel, selbst in ver­stärkter Besetzung, auf verlorenem Posten. So gut demokratisch die Absicht war, die Neunte diesmal nicht nur für die „happy few“ im Großen Haus der Bühnen der Landeshauptstadt aufzuführen, und so starker Publikumsandrang auch diese Absicht guthieß — immerhin waren 4000 Zuhörer gekommen —,das Ergebnis war niederschmet­ternd. Keine Neunte für 4000 oder eine Neunte für 1000 — das ist hier die Frage, vor der man in Zukunft steht, vielmehr stände, gäbe es nicht den neuen Konzertsaal, der in 15 Monaten nun doch endlich fertig sein wird.

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Daß die Aufführung an den akustischen Verhältnissen der Halle scheitern mußte, ist bedauerlich — um so bedauerlicher, da Peter Ronnefeld, soweit bruchstückhafte Eindrücke diesen Schluß zulassen, eine überaus zwingende, souveräne Interpretation der großen Sin­fonie gelang. Von vornherein klar war, daß er dem Werk jedes pathe­tisch-pastosen Anstrichs, den nicht die größten, aber die meisten Vertreter vorangegangener Dirigenten-Generationen an der Sinfonie hervorzukehren pflegten, entkleiden würde; nicht aber von vornhe­rein klar war, daß er derart elegant beinahe, mit schwebender Agogik, stets auf melodischen Fluß bedacht, mit wunderschön gelungenen Uebergängen musizieren würde, wobei sich die Lösung mancher pro­blematischen Stellen, an denen die Sinfonie nicht gerade arm ist, wie von selbst ergab. Ronnefelds Tempo-Auffassungen (das einzige, wo­rüber man bei dieser Ostseehallen-Aufführung halbwegs mit Sicher­heit urteilen kann) waren extrem, ohne je willkürlich oder gewaltsam zu wirken: dem ins Prestissimo hineingesteigerten zweiten Satz folgte ein überaus gedehntes, getragenes Adagio, das ich selten so langsam gehört habe, und im Finalsatz waren die Tempi scharf modi­fiziert und gegeneinander abgehoben, immer jedoch in den rechten Proportionen zueinander, immer erfüllt.

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Bedingt nur läßt sich auch über die übrigen Beteiligten an der Auf­führung etwas sagen. Wenn die Städtischen Chöre Kiel und Flens­burg (Einstudierung: Christian Süß und Josef Beischer) stumpf und flach klangen, klangen sie vermutlich in der Halle nur so, während sie in Wirklichkeit sehr schön gesungen haben mögen. Sehr schön auf jeden Fall sang die immer noch mit einem herrlichen leuchtenden, strahlenden Timbre überraschende Clara Ebers die Sopranpartie, neben der die Altistin Eva Bornemann farblos blieb, und dem herrli­chen Bassisten Iwan Rebroff machten die Riesendimensionen des Raumes keinerlei Schwierigkeiten, während der vom Volumen her überforderte Tenor Cornelis van Dijk in diesem Rahmen kein wahrer „Held zum Siegen“ war.

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Der Publikumserfolg für Beethovens musikalische Freudenbotschaft und für die Mitwirkenden, besonders für Ronnefeld, war gewaltig.

Peter Dannenberg

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Siehe auch v. G. oder Dr. Hellmuth Steger

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