Philharmonischer Chor Kiel

Flensburger Tageblatt, 15.11.1963

Die Neunte in 57 Minuten

Drittes Flensburger Sinfoniekonzert / An der Orgel Uwe Röhl (Schleswig)

So oft man Beethovens d-Moll-Symphonie gehört haben mag, so oft wohl wirkt sie wie eine neue Offenbarung. Vom Inhalt her ist sie kaum allgemein verbindlich auszuschöpfen, am unzulänglichsten mit Worten, die ja überhaupt nur andeuten können. Die Form interessiert vorwiegend den Spezialisten, und ihm ist längst das Verwegene be­kannt, daß in dieser Kolossalschöpfung drei große Pläne miteinander verschmolzen sind: der Plan einer Symphonie in D, der Plan einer Bacchusfeier und schließlich der Einbau der Schillerschen Ode. In der Neunten resümiert Beethoven sein Leben, er reflektiert es aber auf Distanz, er abstrahiert und konzentriert bis zur Formel, deren haupt­sächliche das nicht mehr zu verkleinernde Kopfmotiv ist. Der Vulkan der eruptiven Leidenschaften ist zwar noch nicht erloschen, aber ein Abstand ist gesetzt, und vielleicht ist es statthaft, aus der heutigen Nuklear-Erfahrung zu sagen: Er versengt uns nicht mehr mit seiner unmittelbaren Feuersglut, doch dafür mit seiner atomaren Ausstrah­lung. Ernst Bücken lehrte, die Neunte Beethovens sei die vertonte Philosophie Kants, man mag fest glauben, daß dies zutrifft.

Beethovens Neunte ist als Schöpfung ein geradezu kosmisches Ereignis. Da reicht selbst eine nur teilweise künstlerisch geglückte Wiedergabe aus, um sie für die Mehrheit eines großen Auditoriums zu einem gewaltigen Erlebnis werden zu lassen. Das bewirkt entschei­dend der gigantische Schlußchor „An die Freude“, auch wenn die Interpretation der drei reinen Instrumentalsätze zuvor nicht immer eine reine Freude war.

Mit einer Aufführungszeit von 57 Minuten erzielte GMD Heinrich Steiner beim 3. Flensburger Sinfoniekonzert einen Geschwindigkeits­rekord für die Neunte: bei 70 Minuten liegt das übliche Zeitmaß, das natürlich über- und unterschritten wird. Dem ersten Satz (Allegro ma non troppo, un poco maestoso) fehlte es an dem vorgeschriebenen Ingredienz des Feierlichen, des Gemessenen, des Würdevollen, was „maestoso“ alles heißt. Danach mußte der zweite Satz (Molto vivace) der Tempo-Proportion wegen zum Presto-Prestissimo-Sturm werden. Im langsamen Satz ging Steiner behutsamer dem großen Atem nach, der aus der komplizierten, höchstgeistigen Partitur ins bezwingend Einträchtige gelockt und gelenkt sein will. Imponierend gedieh der Schlußchor über Schillers Ode. Eine große Sängerschar stand da, gebildet vom Städtischen Chor Flensburg, vom Städdtischen Chor Kiel und von Mitgliedern des Theaterchors Flensburg, takt- und tonsicher vorbereitet von Josef Beischer. Bei aller eherner Diatonik sind die Chorsätze außerordentlich schwer; die Soprane haben sich beson­ders in der beharrlich von ihnen geforderten anstrengenden Höhe zu bewähren, die heute beträchtlich über der Tonhöhe zu Beethovens Zeit liegt. Schon vor vier Jahren, bei einer Feier zum 200. Geburtsjahr Schillers, hatte dieser Chor uns stark beeindruckt: Diesmal wirkte er noch intensiver, kraftvoller, besser auch ins Klangverhältnis mit dem Orchester gebracht, alles in allem: Grund zum Stolz, in einer Stadt wie Flensburg soviel an Idealismus und Können zu organisieren.

Von den Solisten waren drei aus dem Flensburgen Opernensemble genommen: Edith Brodersen (Sopran), Olivia Brewer (Alt) und Robert Bennett (Tenor), die fast wie erfahrene Oratoriensänger ihre Partien beherrschten. Den stärkeren Eindruck hinterließ allerdings Claus Ocker. Vor allem in der mittleren und höheren Stimmlage entwickelte er eine markante Kraft, die ihn leider in der Tiefe etwas verließ. Die ungünstige Aufstellung der Solisten seitlich hinter den Violinisten und dicht vor dem Chor beeinträchtigte allerdings ihre ohnehin sehr schwierige Sonderfunktion.

An diesem Abend erklang auch wieder die Konzertorgel des Deut­schen Hauses, über deren Besitz wir uns freuen. Solist war Uwe Röhl (Schleswig). Er spielte ein Konzert von John Stanley, der ganz im Banne Händels steht, mitunter diesem zum Verwechseln ähnlich, nur schwächer ist. Von Händel hörten wir das d-Moll-Konzert aus der Sammlung op. 7, daraus Händel gerne dieses und jenes nahm, um bei seinen Oratorien-Aufführungen damit die Pausen zu füllen. Sie dienen also mehr der Erheiterung als der Vertiefung der Gemüter, und die Organisten finden darin Gelegenheit, virtuos zu glänzen. Das erwähn­te Konzert ist als reines Orgelstück landläufig bekannt. Röhl spielte es selbstverständlich flüssig, wie es ein versierter Organist tun muß; doch blieben jene besonderen Farbeffekte aus, die in solchem Falle den ästhetischen Zauber bewirken. Den schnellen Läufen war manch­mal mehr Präzision zu wünschen, es zerfloß hier einiges. Auch spielte Uwe Röhl im ganzen zu laut. Selten allerdings sahen wir einen Solisten mit soviel Blumen bedacht wie ihn, ein schönes Zeichen für Dank, den man in einer Kirche einem verdienstvollen Organisten nicht demonstrieren kann. Heinrich Steiner hatte das begleitende Orche­ster vernünftig reduziert. Das erste Adagio bei dem Händel-Werk interpretierte er in romantischer Auffassung, wobei er den Cellisten ein überstarkes Vibrato erlaubte. Das tönende Barock dekorierte sich anders. Dr. Wilhelm Hambach

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