Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 23.06.1961

Festliches Chorkonzert in der Hebbelschule

Rhythmus und Eros

Strawinskys Hochzeitskantate „Les Noces“
und Orffs Liebeskantate „Catulli Carmina“
Detlef Kraus spielte Barttók und Prokofieff

Der Städtische Chor hat es sich nicht eben leicht gemacht mit seinem Festkonzert zur Kieler Woche; man könnte fast sagen, anspruchsvoller ging es kaum. Diese beiden (eigentlich szenischen) Kantaten, berstend von Vitalität und einer ganz in Rhythmus trans­figurierten Erotik, stellen das ausführende Ensemble vor jede nur denkbare Schwierigkeit. Im übrigen ist die Koppelung gerade dieses Strawinsky mit gerade diesem Orff — die sich aufführungstechnisch durch das weitgehendst übereinstimmende Instrumentarium gerade­zu anbietet — hochinteressant, weil sie einen unmittelbaren Vergleich der beiden selten gespielten Werke nicht nur zuläßt, sondern direkt herausfordert.

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Der Vergleich zeigt nun leider sehr deutlich, daß die bajuwarisch-handfeste, durch Gelehrsamkeit in alten Sprachen und Tonarten „überhöhte“ Sinnlichkeit der Orff-Kantate zwar höchst vordergründig wirksam wird, aber recht substanzarm anmutet gegenüber dem letz­ten Werk, in dem der Emigrant Strawinsky unmittelbar den Stimmen seiner russischen Heimat nachhorchte. Orff seinerseits hat dann Strawinsky nachgehorcht — und das recht aufmerksam.

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Aus der ekstatisch strengen Musik der „Noces“ wird der Dualismus des „modernen Menschen“ auf eine ebenso bittere wie überwältigen­de Weise spürbar. Die folkloristische Melodik der Hochzeitskantate erfährt den bizarren Gegensatz eines maschinellen Klanggerüsts von vier Klavieren und 17 Schlaginstrumenten (am liebsten hätte der Komponist mechanische Klaviere verwendet): die berühmte Absage an den „Ausdruck“ in der Musik ist damit erstmals gegeben. Dennoch ist die Ausdruckskraft dieses Werkes immer wieder packend und erregend durch die in Form gebändigte Wildheit und Ursprünglichkeit des Eros, den es in jedem Takt beschwört.

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Orffs „Catulli Carmina“ muten dem Vorbild dieser erlittenen Musik gegenüber als intellektuelle Spielerei an. Auch in dieser musikalischen Liebesfeier dominiert der Eros durch Text und Rhythmus. Aber er wird durch bewußte Banalität und Ironie einerseits überbetont, anderer­seits verflacht. Auch hier begleiten ein Klangkörper aus vier Klavieren und Schlaginstrumenten den Chor — der bei Orff allerdings weite a-cappella-Strecken zu bewältigen hat — und eine ähnliche Motorik bestimmt das musikalische Bild. Doch was Strawinsky teuer war (er arbeitete über einen Zeitraum von fünf Jahren an der Instrumenta­tion), wurde Orff zu billig. Da sprüht kaum noch ein Funke von dem Einfallsreichtum der „Carmina burana“, ganz zu schweigen von Strawinskys Ueberfülle von Erfindung. Die musikalischen Inspirationen sind jedenfalls erheblich blasser, als der amüsante textliche Vor-[Zeile fehlt] Material wird dafür durch die langatmigen Wiederholungen so sehr strapaziert, daß ich in der Aufführung versucht war, das vom Solosopran eindringlich vorgetragene „dormi“ (schlafe!) als Auffor­derung zu verstehen.

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Dies allerdings, so muß betont werden, ging keineswegs zu Lasten der Ausführenden, die sich ihrer Aufgabe mit bewundernswerter Sicherheit und spürbarer Musizierfreude entledigten. Die Interpreta­tion dieser beiden Kantaten (und der reizvollen a-cappella-Zugabe von Orlando di Lasso) war die qualifizierteste Leistung, die ich je vom Städtischen Chor hörte. Stimmliche Sauberkeit und musikalische Disziplin ließen weder in der komplizierten Rhythmik, noch in der ebenso schwierigen Intonation oder Artikulation zu wünschen übrig — ein Ergebnis offenbar hervorragender Probenarbeit, das Hans Feldigl, der Kiel nun leider verläßt, durch eine sparsame, fast schulmäßig genaue Leitung realisierte. Die beiden Nachwuchs-Pianisten Manfred Grasse und Manfred Fock, Dr. Kai Hauschildt als „Amateur“ und Erika de Heer als Korrepetiteuse der Städtischen Bühnen musizierten, ebenso wie die Schlagzeuggruppe, mit stählerner Prägnanz. Unter den Solisten dominierte Alfred Vökts schlanker, mit Intelligenz und Ueberlegenheit in genauem Werkstil geführter Tenor. Rose Fink sang ihre beiden Sopran-Partien sehr respektabel, sozusagen auf einem einzigen hübschen Ton, August Meßthaler (Baß) charakterisierte ausgezeichnet; von Hanne Gschwind-Kochs Alt indessen war so gut wie nichts zu hören.

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Detlef Kraus, Kulturpreisträger der Stadt Kiel 1961, spielte vor der Pause Bartóks Suite op. 14 und die 7. Sonate von Prokofieff. Er bewies damit eindeutig, daß die Moderne nicht zu seiner Domäne gehört. Bartók bedarf bei allem eindrucksvollen technischen Können des Pianisten eines analytischeren Geistes und eines paprizierteren Temperaments, um werkentsprechend interpretiert zu werden — und Prokofieff klang mir allzusehr nach Rachmaninoff. Weniger (an roman­tischem Ausdruck und Pedal) wäre in diesem Falle entschieden mehr gewesen. Die Brahms-Zugabe schließlich stand reichlich stilfremd in einem Programm, das förmlich nach dem „Allegro barbaro“ verlangte — aber der Pianist schien nachgerade genug von moderner Musik gehabt zu haben; eine Empfindung, die ein nicht geringer Teil des Publikums wahrscheinlich mit ihm teilte, wie die Beifallskundgebungen nach der gefühlsselig ausgesponnenen Ballade zeigten. (Konzertdirektion Mühlau) S. M.

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Siehe auch: R. B.

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