Philharmonischer Chor Kiel

Flensburger Tageblatt, 25.11.1952

Das Verdi-Requiem

Totensonntag-Aufführung unter GMD Steiner im Deutschen Haus zu Flensburg

Wie auch immer man zu diesem sehr italienischen „Requiem“ ste­hen mag, man spürt darin den Atem eines großen Menschen und das Genie einer bedeutenden musikalischen Natur. Neben Bach und Beet­hoven, Mozart und Brahms behauptet es sich in seiner eigenen Welt der musikalischen Sprache — wenn diese Welt auch der Oper nah, vielleicht allzu nah verwandt ist. Das Pathos und die Leiden­schaft des Opernmenschen Giuseppe Verdi leben in dieser Toten­messe, das Dramatische Effetto, die vergeistigte Sinnlichkeit und alle jene Kennzeichen einer Rasse, die musikalisch in Verdi ihren höch­sten, typischen Ausdruck gefunden haben.

Verdi war im Glauben kein Dogmatiker und hat seiner Kirche ziemlich fremd gegenübergestanden. Daß er aber doch ein gläubiger Mensch war, fühlen wir aus dem tiefen Ethos und aus der Inbrunst dieses Requiems, das ein Werk des reifen, geläuterten Verdi ist und das aus einer uns immer wieder erschütternden Unmittelbarkeit der Intuition geschaffen wurde. Verdis Requiem ist echt und elementar. Alles Echte und Ursprüngliche in der Kunst bezwingt uns.

Wer kann sich der Fülle und Farbigkeit dieser Musik entziehen? Wer wird nicht bezwungen von dem im pianissimo geflüsterten „Requiem“, der verhaltenen Erregung im „Kyrie“? Wo gibt es in der Musik etwas, das aus so elementarem, fast kreatürlichen Gefühl emporsteigt, wie der angstvolle Aufschrei im Chor und Orchester beim „Dies irae“? Eine Welt ist in Aufruhr und aus den Fugen, bis alles schauerlich zusammensinkt im „Mors stupebit.“ Höchste Verklärung dann am Schluß dieses Werkes, wenn der inbrünstig bittende Sopran nach der meisterlichen Chorfuge sein „Libera me“ anstimmt, bittend, tröstend, seherisch. Hinter der sinnlichen Fülle und leuchtenden Farbe Verdischer Musik, die immer zur Anschaulichkeit des dramati­schen Vorgangs strebt, erkennt man, daß sich hier ein Mensch inner­lich erbebend ausspricht, ein großer, echter Mensch und ein Genie der musikalischen Welt . .

Die Aufführung hatte Größe und Ausdruckskraft. Sie wird zu den Höhepunkten des Flensburger Musikwinters gehören. In souveräner Werkbeherrschung dirigierte GMD Heinrich Steiner das Requiem auswendig. Das bedeutet bei ihm keineswegs einen dirigentischen „Al-fresco“-Stil, sondern sorgfältigste und präzise Deutung und gefühlsmächtige Verlebendigung der Partitur aus ihrer genauen Kenntnis heraus. Sein suggestiver musikalischer Wille faßte mit gebändigter leidenschaftlicher Kraft Chor, Orchester und Solisten zu einer makellosen Musiziereinheit zusammen. Auf diesem Instru­ment interpretierte Steiner das Werk mit außerordentlicher Einfüh­lungskraft in die Verdische Klang- und Ausdruckswelt. Das romanische Werk wurde aus romanischem Musiziergeist heraus gestaltet. Steiner entfaltete aufs innigste den lyrischen Melos, gestaltete aufs heftigste die dramatische Vehemenz des Werkes. Erregend waren die jähen Übergänge und Stürze und beklemmend die Schauer der „Dies irae“-Dramatik. Die Interpretation des Verdi-Requiems gehört in ihrer musikalisch-geistigen Haltung wie technischen Souveränität zu den bedeutendsten dirigentischen Leistungen Heinrich Steiners.

Eine Chorgemeinschaft aus Mitgliedern des Städtischen Chors und der Städdtischen Bühnen Flensburgs, ergänzt durch einige Herren vom Städtischen Chor Kiel, sorgfältig einstudiert von Caspar Alte, gab der Aufführung ein sicheres vokales Fundament. Der Chor sang mit dynamischer Ausdruckskraft, bemerkenswerter klanglicher Schattierungsfähigkeit und tonlicher Sauberkeit und sehr zuverlässig ging er den Absichten und Impulsen des Dirigenten nach. Das Nordmark-Sinfonieorchester musizierte schmiegsam, klangschön und mit rhythmischer Präzision.

Die Solisten haben beim Verdi-Klangbild eine beherrschende Funktion. Man hörte ein Quartett von hohem, untadeligem künstleri­schen Rang: Hanna Ulrike Vassal sang mit zuverlässig anspre­chender und durchweg leuchtkräftiger Stimme die schwierige Sopran­partie. Maria von Ilosvays füllige und sicher geführte Altstimme gelangte zu echter und bedeutender dramatischer Ausdruckskraft. Rudolf Watzke sang mit der Kultur und dem Erfahrungsreichtum seines Könnens in vornehmer musikalischer und stimmlicher Haltung die Baßpartie. Für Gerhard Nathge wurde diese Aufführung von entscheidender Bedeutung: zu einem ersten und sehr rühmlichen Höhepunkt seiner schnellen stimmlichen Entwicklung. Sein Tenor entwickelte, mühelos den weiten Raum beherrschend, eine Schönheit und einen lyrischen Schmelz in vorbildlicher Phrasierung, daß man jetzt getrost von einer endgültigen Bestätigung einer großen „Entdeckung“ sprechen kann. Beifallskundgebungen nach einer Requiem-Aufführung mögen ungewöhnlich sein. Sie entsprachen hier wohl einem natürlichen Bedürfnis, allen Mitwirkenden für diese eindrucksstarke Aufführung zu danken. Franz Götke.

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Siehe auch: —g—

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