Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 11.12.1935

Bachs „Hohe Messe“

Drittes Symphoniekonzert des „Vereins der Musikfreunde“

Während die Matthäus- und Johannispassionen volkstümlich ge­worden sind, wie die Symphonien Beethovens oder die musikdrama­tischen Werke Richard Wagners, ist Bachs „Hohe Messe“ auch heute noch, 200 Jahre nach ihrer Niederschrift, höchstens Ge­genstand scheuer Verehrung. Die ungeheuren Schwierigkeiten ihrer öffentlichen Aufführung sind einer Verbreitung im großen hinderlich — außerdem bleibt bei einer Aufführung in der Kirche meistens ein so empfindlicher Rest an akustischer Unvollkommenheit, daß der Hörer, wenn er nicht bis in Einzelheiten mit der Partitur vertraut ist, nur schwer folgen kann. Es war daher ein glücklicher Gedanke unserer verantwortlichen Männer, das Werk in den schönen, neuen Festsaal im „Haus der Arbeit“ zu stellen. Hier, wo kein Nachhall die Deutlichkeit gefährden kann, kann sich das Riesenwerk klar und störungslos auf­tun, und so wird die gestrige „weltliche“ Wiedergabe als richtung­gebend für alle künftigen in Kiel anzusehen sein.

Es ist falsch, die H-Moll-Messe künstlich zu einem Produkt des protestantischen Pessimismus stempeln zu wollen. Sie ist zu breiten Teilen für den Weihnachtsgottesdienst bestimmt gewesen, eine um 1740 von Bach eigenhändig gefertigte Partitur-Abschrift des Gloria trägt den ausdrücklichen Vermerk: „Am Feste der Geburt Christi“. Weihnachtliche Innigkeit und weihnachtlicher Jubel sprechen sich in ihr noch großartiger und herzbewegender aus als in dem so viel bekannteren „Weihnachtsoratorium“. Freilich steht am Anfang des Ganzen das unglaublich herbe Kyrie, das sich nicht genug tun kann in den Vorstellungen des Schmerzes, der Buße und Zerknir­schung. Aber auch diese Stimmungen darf man heute nicht falsch deuten, sie gehören seit alters zu dem Empfindungskreis der Advents- wie der Weihnachtszeit. Dafür zeugen mit dem allbekannten Choral „Mit Ernst, o Menschenkinder“ Bachs bittersüße, ebenfalls in H-Moll notierte Weihnachtsweise „Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesulein, mein Leben“. Und auch hier spinnt er nur den Gedanken eines Aelteren weiter aus: schon die prachtvolle Baß-Solokantate unseres Gettorfer Hofkapellmeisters Colerus auf die gleichen Paul Gerhardtschen Strophen bringt eine eigene, sehr eigentümliche Grundweise, wiederum aus der seltenen Tonart H-Moll!

Den Hauptanteil des Gelingens trägt der Chor. Ihm hat Bach eine Aufgabe gestellt, die nur unter den günstigsten Aspekten befriedi­gend gelöst werden kann. Da die H-Moll-Messe kein einheitliches Werk ist, sondern in sich eine ganze Reihe von ursprünglich deut­schen Kantatenchören hat aufnehmen müssen, die in ihrer Besetzung einander nicht entsprechen, so pendelt der Chorsatz zwischen Vier-, Fünf- und Sechsstimmigkeit hin und her. Damit wird die Aufstellung der Chormasse zu einem schwerwiegenden Problem für den Leiter, und man kann nicht behaupten, daß die gestern getroffene Anordnung sich in allen Teilen als die zweckmäßigste erwiesen hätte. Solange die Begleitung des im Vordergrunde aufgestellten Streichkörpers die Rolle des Nothelfers nicht überstieg, war die Verschmelzung vollkommen, konzertierten indessen selbständige, lebhaft figurierte Stimmen mit den gesungenen Partien, wurde der Chorklang, wenigstens für die vordere Hälfte des Saales, stark absorbiert, wenn auch nicht in glei­chem Maße wie in der Kirche. Nur hinten im Saale erschienen auch diese Partien störungsfrei.

Generalmusikdirektor Gahlenbeck's tadellose Vorbereitung und Einstudierung trug ihre Frucht. Prächtig gelangen die Kyriesätze, prächtig vor allem die getragenen Stücke der übrigen Teile, das unvergleichliche Sanctus eingeschlossen. Auch da, wo Bach den Sängern das Letzte an Treffsicherheit zumutet(„et incarnatus est“ und ähnliche Stellen), blieb kein Wunsch offen. Wenn in den kolorierten Sätzen manches nicht glückte, so liegt es daran, daß Bach niemals verlangt hat, einem stark besetzten Chortutti solistische Leistungen aufzuzwingen.

Für die Soli standen ausgezeichnete, zum Teil hier wohlbekannte Künstler bereit. Zunächst die grundmusikalische Sopranistin Anny Quistorp. Mit ihrer leichten, lichten Stimme führte sie die gefürch­teten Ensemblesätze an (ein Solo hat ihr Bach leider nicht gegönnt), daß es auch dem unvorbereiteten Hörer leicht wurde, sich in dem verschlungenen Geflecht von Stimmen und Gegenstimmen zurecht­zufinden. Das gleiche gilt von Dr. Hoffmann, den wir hier in Kiel besonders gern zu Gast laden, weil sich mit seinem früheren Wirken an unserer Universität die schönsten Erinnerungen verbinden. Sein Tenor scheint immer noch zu wachsen, die Höhe hat sowohl an Kraft wie an Weichheit wieder gewonnen. Die sängerische Vollkommenheit im Bunde mit der universellen Musikalität machen die Hilfe dieses Sängers überall, wo er eingreift, zu einer Glanzpartie der Aufführung.

Eine Sängerin, die wir unter keinen Umständen wieder aus dem Auge verlieren möchten, ist die junge Altistin Irmgard Pauly, eine „Anfängerin“, in Wahrheit aber eine Künstlerin von ungewöhn­lichem Format. Sie vertrat die beiden Rollen des Mezzosoprans und des Alts und hatte in beiden mit schwierigen Soli aufzuwarten. Ihre schlanke, tadellos ansprechende Stimme, der zum Glück alles fehlt, was die Kirchenaltistinnen gelegentlich zu einem Schrecknis für feiner organisierte Ohren macht, ist wie keine geschaffen, den verschlun­genen Linien der Soli nachzuwandeln. Wir entsinnen uns nicht, jemals auf einem Bachfeste eine ähnlich schlichte, eindrucksvolle Wiedergabe dieser, der größten Partie der Hohen Messe gehört zu haben.

Auch der Bassist hat eine gespaltene Rolle. Die erste Arie verlangt Sarastro-Lage, die zweite liegt ausgesprochen hoch. Burchard Kaiser fand sich besser mit der zweiten ab, wo seine Stimme anmutig sich mit dem Gerank der beiden Oboen verschlang, für die andere fehlte seinem Organ die Sonorität, die es braucht, soll es sich gegen die seltsam dunklen Farben der mitgehenden Instrumente behaupten.

Die zahlreichen Instrumentalsolisten konnten erfreulicherweise aus eigenem Fundus bestritten werden. Wer kennte sie nicht, unsere alten Bachianer: Ernst Träger (Violine), Joseph Kraft (Flöte), Richard Lauschmann (Oboe d'amore), Paul Haußmann und Arthur Bauer (hohe Trompete), Ernst Hilliger (Horn)? Daß aber auch neue Kräfte im Orchester sich regen, zeigte die famose Vertretung der zweiten Liebesoboe durch Willi Kremer. (Bei dieser Gelegenheit muß einmal gesagt wer­den, daß es u. E. nicht richtig ist, wenn das Publikum über das Können der Neuverpflichteten nichts erfährt; wir möchten, daß den Herren Gelegenheit gegeben würde, sich solistisch vorzustellen.) Das Orchester spielte seinen schwierigen Part wie immer technisch hervorragend; wir bitten nur, um Rechts willen!, dem Publikum nicht die Meinung aufzuzwingen, als sei das Stakkato die Hauptvortrags­manier seiner Musik. Orgel und Klavier vertraten als Generalbassisten Dr. Deffner und Karl-Heinz Strasser ganz, wie es der Stil erfordert. So wurde die Aufführung ein großer, wohlverdienter Erfolg. Dr. Engelke.

*

Siehe auch — — — z.

Zuletzt geändert am