Philharmonischer Chor Kiel

Politiken, 19.04.1930

Der Kieler Oratorienverein in der St. Petri-Kirche.

Gestern Abend machte man in dem A-cappella-Chor des Kieler Oratorienvereins, dessen Leiter Prof. Dr. Stein ist, die Bekanntschaft mit einer für Kopenhagen bisher unbekannten Chor-Vereinigung. Es was dies interessante und wertvolle Bekanntschaft, denn dieser große gemischte Chor zeichnete sich nicht nur durch erstaunliche Sicherheit, sondern auch durch seltene Ausgeglichenheit, Fülle und Klangschönheit des Tons aus. Von weniger Interesse war hingegen das Werk, mit welchem der Chor sich einführte. Die Markus-Passion des jungen Schleswigers Kurt Thomas ist wirkungsvoll gesetzt, aber mehr äusserlich dramatisch lebendig als wirklich gross, zudem von einer einseitigen, recht dürftigen Polyphonie. Das war „technische“ Musik, aber die Seele kommt zu kurz.

Der Kieler Oratorienverein singt noch einmal am ersten Ostertag, diesmal in der Frauenkirche. Unser Musikpublikum sollte nicht die Gelegenheit versäumen, ihn sich anzuhören.

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Nationaltidende, 19.04.1930

Deutsches Passions-Konzert.

Am Karfreitag Abend fand in der St. Petrikirche ein Passionskonzert des A-cappella-Chores des Kieler Oratorienvereins unter Leitung von generalmusikdirektor Pro. Dr. Fritz Stein statt. Es gelangte eine Passion nach dem Prosatext des Markus-Evangeliums von Kurt Thomas zur Aufführung, eines jungen deutschen Komponisten, der sich besonders durch Chorkompositionen einen Namen gemacht hat und der jetzt Theorielehrer am Leipziger Konservatorium ist. Sein Werk ist mit grossem technischen Können geschrieben unter wirkungsvoller Unterstreichung der dramatischen Momente des Textes; auf der anderen Seite zeigt es aber nirgends grosse Originalität oder ausgesprochene Persönlichkeit. Der Eindruck des Konzerts gesteern Abend hing daher mehr von der Aufführung ab und da muss man sagen, dass der Kieler Chor sich sekbst den größen Aufgaben gewachsen zeigte. Der Klang war ausserordentlich schön in seiner ausgearbeiteten Feinheit, und selbst wenn nicht alle Männerstimmen (besonders der Tenor) gleichmässig gut waren, besass der Chor zum Ausgleich genügend Soprane, die sowohl durch ihren Klang als aauch durch die Musikalität der Stimmführung hervorragten. Das Konzert war in jeder hinsicht eine grosse Ehre für die deutschen Sänger.

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Berlinske politiske og Avertissements-Tidende, 19.04.1930

Das Konzert des Kieler Oratorienvereins in der St. Petrikirche.

Kurt Thomas Passion.

Es war ein recht bemerkenswertes Werk, welches der Kieler a-cappella-Chor den Kopenhagenern vorführte. Bemerkenswert schon dadurch, dass ein Jüngling von 24 Jahren diese ernste Musik zur Leidensgeschichte geschrieben hat, bemerkenswert durch die Überlegenheit, mit der er die vokalen Mittel beherrscht und durch sie Stimmungen schafft und Bilder hervorruft; bemerkenswert oder besser merkwürdig kann man es wohl nennen, dass ein so jugend­licher Musiker sich gerade mit diesem Thema beschäftigt, bemerkens­wert endlich — und nicht zum wenigsten — der freie Stil, den er für seine Passionsmusik anwendet. Er ist sozusagen „um den Oratorien­stil herumgegangen“. Denn während wir in diesem Zusammenhang hauptsächlich an die Bach'schen Passionen denken, hat er keinen erzählenden Solisten, keine eingestreuten Arien zur Vertiefung des Textes, keine Choräle, ausgenommen die beiden kurzen Strophen, die das Werk einleiten und beschliessen. Es ist wohl kaum zufällig, dass der Komponisst für sein Werk gerade das Markus-Evangelium gewählt hat mit seinem rein „berichtenden“ Text, seiner zusammengedrängten streng objektiven Haltung ohne jede Reflexionen. So findet diese lebendige Passionsmusik starken Ausdruck für die greifbaren Vorgän­ge, ist aber ohne eigentlichen Gefühlausddruck, und vermeidet alles Überflüssige.

Der tiefe Ernst und die persönliche Ergriffenheit, mit der der junge Musiker seine Musik geschrieben hat, muss uns Respekt abnötigen, besonders die Kunst, mit der er das einzige Mittel — die menschliche Stimme in zwei vierstimmigen Chören ausgenutzt hat, hingegen kann man, jedenfalls beim ersten Hören, sich nicht ganz von dem Eindruck frei machen, dass neben stark bewegten und ergreifenden Stellen andere weniger gelungene stehen, mehr verstandesmässig aufge­baut als unmittelbar empfunden — aber wie könnte das wohl anders sein? Und selbst wenn man das Werk in seiner Anlage im ganzen versteht, stösst man in seinem Verlauf auf Überraschungen (in stili­stischer Hinsicht) bei denen man, jedenfalls beim ersten Hören, etwas den Eindruck von Unruhe oder Unausgeglichenheit hat.

Man kann indessen diese Markus-Passion nicht ohne innere Anteil­nahme und Sympathie hören (und dass man flüchtig an Bach denken muss, während sie erklingt, ist nicht die kleinste Ehre) und man muss dem Kieler Chor und Prof. Stein dankbar dafür sein, dass sie uns mit diesem Werk bekannt gemacht haben, das sehr häufig die allergröss­ten Anforderungen an das Können des Chores stellt und überall einen hohen Grad von Musikalität verlangt. Die Aufführung war schön, sicher und stimmungsvoll. Der Chor hat einen warmen, vollen, „runden“ Klang und einen selten ausdrucksvollen Vortrag — die prächtigsten Steigerungen, das feinste ersterbende pp hörte man gestern Abend. Auf seiner vollen Höhe schien aber der Chor auch gestern Abend nicht zu sein, so schön und musikalisch die einzelnen Stimmen klangen (man freute sich besonders über die Bässe), so ausgezeichnet die schwierigsten Einsätze oder Intervallsprünge gelangen, entkam man doch nicht ganz dem Eindruck, dass die Reiseermüdung und mögli­cherweise auch der stark überheizte Raum der Kirche teilweise die volle Entfaltung hemmten (zuweilen auch die Intonation). Man freut sich da doppelt, den Chor am Sonntag in der Domkirche unter hoffent­lich günstigeren Bedingungen zu hören. Ein dänisches geistliches Werk (von Raasted) und ein Händelwerk locken.

W.B.

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