Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 31.03.1929

Bachs Matthäus-Passion
im Kieler Stadttheater.

Vor zweihundert Jahren, am 15. April 1729, ist das Werk zum ersten Male erklungen. Meister Johann Sebastian, der Geliebte, der Gewaltige, leitete selber die Aufführung, die im nachmittäglichen Karfreitags-Gottesdienst der Thomaskirche zu Leipzig stattfand. Nach dem ersten feierlichen Aufrauschen dieses Hoch- und Groß­werkes ist es wiederholt in der Musikstadt Leipzig zur Aufführung gelangt, also keineswegs „verschollen“, wie man es oft liest. Immer­hin trat es in der öffentlichen Musikpflege so sehr zurück, daß es neu gewonnen werden mußte für das folgende Jahrhundert.

Felix Mendelssohn wurde der Apostel für Bachs Matthäus-Passion. Vor hundert Jahren, am 11. März 1829, brachte er das Werk zur neuen Aufführung in der Singakademie in Berlin. Seitdem ist die Welt voll des Ruhmes über dieses Riesenwerk, dessen Erklingen hinfort auch andere Werke Bachs in den Vordergrund rückte. Heute ist Bachs Stellung die eines glanzumstrahlten Herrschers im Reiche der Musik. Die Grenzen dieses klingenden Reiches sind von uns noch nicht erreicht. Denn manches Stück aus Bachs Gesamtwerk wartet, daß die vor zwei Jahrhunderten geschriebene Note klingender Ton für die Gegenwart werde.

Die Chöre der Matthäus-Passion sind wie „von einem Feuer, einer schlagenden Kraft und wiederum von einer rührenden Zartheit“. Noch immer werden wir um die letzten Erkenntnisse dieser Musik, um das Weltabgewandte in ihr, das doch so ursprünglich das lebendigste religiöse Gefühl beschäftigt. Wie gewaltig gleich der Eingangs-Doppel­chor. Sünde und Tod, Erlösung und Leben die „turbae“, die Masse und ihre Massigkeit, die sich kundgeben und in den dramatischen Chören das „Kreuzige!“ rufen. Im Gegensatz dazu das Selbstbesinnen und tiefe Betrachten des Einzelnen, in der Verbindung damit der Choral, dieses Kleinod des protestantischen Kirchengesanges: ach es ist ein erschütterndes Erleben, in das uns Bachs Matthäus-Passion hinein­zieht.

So geschah es auch in der Karfreitags-Aufführung des Werkes durch den Kieler „Oratorienverein“ in Verbindung mit dem A-cappella-Chor und dem Lehrergesangverein, denen sich das Städtische Orchester und die Solisten gesell­ten unter der feierlich gestimmten und technisch beherrschten Lei­tung von Professor Stein. Die Chorleistungen müssen rühmend hervorgehoben werden in ihrer klangschönen Ausgeglichenheit. Auch der Kinderchor der 1. Mädchen- und 3. Knabenmittelschule (ihr Gesanglehrer ist W. Bender) war mit der Wiedergabe des Cantus firmus beteiligt. Die solistischen Partien waren durch einheimische Kräfte besetzt, zu denen man Gustel Hammer mit ihrer pas­tosen Altstimme als früheres Mitglied der Kieler Oper rechnen darf. Dr. Hoffmann. konnte seinen sauber die Hochlage behandelnden Tenor für den Evangelisten und die Tenor-Arien einsetzen; von Herzenswärme getragen war sein Singen. Adolf Martini sang mit seinem klangvollen Material die Worte Christi, denen Bach stets die zarte Untermalung der Streichinstrumente gibt. Werner Hamann führte diszipliniert die Partien des Petrus, Judas, des Hohenpriesters und Pilatus aus. Annemarie Sottmann gestaltete die Sopran-Arien in gehaltvoller Wiedergabe. Köstlich die wunderbaren Begleitungsformen, die erschütternde Ausdruckskraft der Begleitinstrumente, dieses Schluchzen, Sehnen, Aufquillen und tiefste Ergriffensein der Klänge. Die Soloinstrumente gaben dazu das ihre: die Solovioline — Ernst Träger spielte sie im klangschönen Rankenwerk der Töne —, die Soloflöte, von Joseph Kraft, die Oboe und Oboen d'amore, von Lauschmann, Wolter und Kahl geblasen, alles im fein durchfeilten Spiel. Bei Dr. Deffner war die Orgelpartie geborgen, und M. Krause behandelte ange­messen die am Flügel ausgeführte Cembalopartie.

Die Aufführung in ihrer formalen Reife, die Wiedergabe in ihrem künstlerischen Gehalt und ihrer offenbarten Empfindungswelt gereich­ten dem musikalischen Leben Kiels zur Ehre.

Professor Hans Sonderburg.

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Siehe auch Paul Becker.

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