Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 16.03.1927

Der religiöse Beethoven.

Aufführung der Missa solemnis.

Beethoven verkündet seine Philosophie nicht in Worten, sondern in Tönen. Die Musik ist ihm die Geistessprache, in der er sich aus­drückt. Er tut das nicht systematisch-spekulativ, sondern künstlerisch-intuitiv. Man soll sich davor hüten, in Beethovens Musik allerlei Deu­tungen hineinzugeheimnissen, die ihr fremd sind, allerlei Auslegungen mit dem Mysterium ihres Klanges zu treiben, die Beethoven nie gewollt hat. Soll uns die Zeit des besonderen Erinnerns an Beethoven nützlich und förderlich werden für ein immer tieferes Beethoven-Erkennen, dann möge sie uns lehren, daß wir des Meisters Musik als die ursprünglichste Form des Lebens aufnehmen sollen. Sie bedarf keiner außermusikalischen Krücken, ihr fehlt jedes romantische Pro­gramm. Sie bedarf auch für den Hörer nicht des poetisierenden Ver­gleichs. An Beethovens Kunst dürfen wir in unmittelbarem Genießen herantreten und dürfen aus dieser Gralsschale trinken. Nicht aus philosophischen Gründen ist diese Musik erwachsen, sondern Beet­hovens Philosophie entstammt musikalischem Boden.

Aehnlich ist Beethovens Einstellung zur Religion. Er war in der Katholischen Lehre erzogen während einer Kindheit voll Leid und Tränen. Beethoven lehnte es ab, über Religion zu disputieren. Er meinte: „Ueber Religion und Generalbaß soll man nicht streiten.“ Nicht der ist religiös, der die meisten Bibelsprüche weiß; nicht der ist der Geheimnisse des Kontrapunktes gewiß, der alle seine Regeln kennt. Religion und Kontrapunkt sind in der Tat letzten Grundes Dinge des Gefühls.

Beethoven stillte sein religiöses Bedürfnis in der Anbetung der Natur. Nicht umsonst ist sein Hymnus „Die Anbetung Gottes in der Natur“ seine bekannteste Melodie geworden. Musik war ihm Naturlaut und darum höhere Offenbarung als dogmatisierende Rede. Je mehr er in die metaphysischen Fragen des Lebens eindrang, desto mehr befreite er sich aus dem Zwielicht kirchlicher Mystik zur strahlenden Helle einer Auffassung, wie sie nur ein Künstler gewinnen konnte, dem das Gottheitsgefühl nicht Lehre, sondern von der Kraft des eigenen Wesens umschlossenes persönliches Erleben war.

Damit fühlte Beethoven sich religiös als Mittelpunkt der Welt, der er angehörte. Gern spricht Beethoven von einer Vorsehung und göttlichen Fürsorge, die er überall in der Natur erkennt. Ihm, der so viel in der freien Natur lebte, lag das Betrachten der Gottheit in ihrer Schöpfung nahe.

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Daß der Meister für eine religiöse musikalische Komposition zum alten Messetext griff, ist nicht verwunderlich. Beethoven waren Martin Luthers „Tischreden“ innig vertraut, gern las er („stöberte“ er) in den Weisheitsschriften der Alten. Im Messetext erkannte er den zu klas­sischer Form gebrachten Ausddruck eines Kultus — aber sogleich schritt seine Kunst hinaus über die Enge einer bekenntnismäßigen Erfassung. Er wandte sich nicht an eine Konfessionsgemeinde, sondern an die Menschheitsgemeinde. „Sokrates und Jesus waren mir Muster“, schreibt Beethoven im Hinblick auf seine große Messe. Und doch sind Weihrauchduft und Kerzenschimmer in ihr, die Ergriffenheit über eine göttlich liebende Selbstopferung, die dem flammenden Wesen des Meisters die Feierlichkeit einer Stimmung aufnötigte, aus der er seine glühende musikalische Beredsamkeit, seine tiefe Versun­kenheit, sein überquellendes und doch so still nach innen gekehrtes Glücksempfinden, sein jubelndes Gloria-Rufen, schöpfen konnte.

Beethoven beschäftigte sich mit einer Komposition „Christus am Oelberg“, mit einem Gedicht „Die Höllenfahrt des Erlösers“, mit einem Oratorium „Der Sieg des Kreuzes“, er hat eine köstliche „kleine“ Messe geschrieben, Lieder zu Gellertschen Texten — aber einmal nur hat er ins Große gefaßt und es riesenhaft übergroß gestaltet. Das war sein Missa solemnis, die er selber unter das Größte rechnete, was er geschrieben. Diese Himmelsmusik spricht von der Welt, diese Welten­musik greift zum Himmel.

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„Von Herzen, möge es zu Herzen gehen“, hat Beethoven über den ersten Satz und damit über das ganze Werk geschrieben.

Diesen vom Meister gewünschten Eindruck hat die Aufführung des Werks durch den Kieler „Oratorienverein“ mit seinen Helfern in edler Form und Weise vermittelt. Es war eine von Innerlich­keit erfaßte, von wertvollen musikalischen Impulsen erfüllte und von Sicherheit in der Beherrschung des Stoffs getragene Wiedergabe. Diese Erraffung aller Kräfte zu beschwingter Einheitlichkeit ist das Verdienst von Professsor Stein. Unterstützt von der Weihe des Raumes der Nikolaikirche, wurde das Konzert wahrhaft zu einer Feier, würdig des Meisters, dem sie galt, würdig des hoheitvollen Werkes, würdig der Kunst, der Beethoven nach eigenem Worte „diente“.

Der Chor zeichnete sich durch Klangschönheit und rhythmische Disziplin aus, das städtische Orchester musizierte, indem es alle Köstlichkeiten der Partitur ausbreitete und die dynamischen Abstufungen bis ins Kleinste beachtete. Auch der Chor brachte fein abgetönte Diminuendi und Gegensätze. Mit den Solisten war ein glücklicher Griff getan. Anny Quistorp-Leipzig mit schweben­dem Sopran, Agnes Leydhecker-Berlin mit sonor klingendem Alt, A. Topitz-Berlin mit enthusiastisch sich aufschwinggendem Tenor, Fred Drissen-Berlin mit hell anschlagendem Baß fügten sich zum Quartett von Wert. Konzertmeister Träger spielte aus­drucksreich die Solopartie, den Orgelpart führte Dr. Deffner mit gewohnter Sicherheit durch.

Soll man Einzelheiten hervorheben? Das beflügelte Gloria — das Et incarnatus est, das in einem erschauernden Musizieren erklang — die sauber durchgeführten Fugensätze im Credo — das Sanctus mit feinen Klangvisionen — dieses wäre aufzuzählen, und alles umschließt das schön gesungene Ganze. Professor Hans Sonderburg.

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