Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 04.04.1923

Passionskonzert des Oratorienvereins.

Das Leiden und Sterben Christi ist die gewaltigste Tragödie der Menschheit. Im Leben der Völker und im Dasein des einzelnen Men­schen, soweit auf dem Erdball das erhabene Christus-Geschehen sich geltend macht, bedeutet der Christus-Gedanke eine Macht. So hat sich auch die Kunst in Bild, Wort und Ton mit der Schristus-Erschei­nung beschäftigt. Im Drama, im Oratorium und im engeren Kreise der „Passion“ hat die Tonkunst Werke geschaffen, die die Idealgestalt Christi uns nahe bringen und auch die menschliche Gefühlswelt der Christus-Tragödie erschließen. Die gewaltigsten „Passionen“ hat Johann Sebastian Bach verkündet. Auf dem Wege zu dieser höchsten Höhe ist Heinrich Schütz der bedeutendste Passionskomponist (1585—1672). Seine „Historie des Leidens und Sterbens unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi nach dem Evangelium des Matthäus“ bewährt sich als ein Werk von tiefstem Wert. Es hat nichts verloren und es wird hinfort von seiner Wirkung nichts einbüßen. Denn zu sei­ner rein musikalischen Bedeutung gesellt sich eine Kraft des persön­lichen und allgemeinen Empfindens, die jedes Menschenherz erfaßt. In den Rezitativen berichtet der Evangelist den dramatischen Verlauf der Passion und Christus selber redet hoheitsvoll und mild-eindring­lich. Der Chor tritt hinzu als der große Miterleber. Aus der Zeit des Tiefstandes deutschnationalen Wesens, der Zeit und der Folge des Dreißigjährigen Krieges, einer Zeit, die so leid- und notvoll an unsere gegenwärtigen schmerzdurchlohten Tage erinnert, aus solcher Zeit nationaler Ohnmacht schafft ein deutsch empfindender Künstler dieses gewaltige Einsamkeitswerk. Es glüht auf wie eine „brünstige Morgenröte“ des Bach-Tages.

Der Oratorienverein bestätigte unter der Leitung seines verdienstlichen Dirigenten Herrn Professor Stein sein Können mit sicher durchgeführtem, klangvollem und intonationsreichem Chor­gesang. Herr Martini vom Kieler Stadttheater sang gehaltvoll die Christuspartie und Herr Heil aus Berlin den Evangelisten in flüssig durchgeführtem Rezitativ. Herr Organist Deffner führte auf der klangreichen Nikolaiorgel in gleich abwechslungsreicher wie geschmackvoller, weil maßhaltender Registrierung den instrumentalen Teil. S—g

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