Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 05.09.1922

Erste Brahmsfeier
in der St.-Nikolai-Kirche.

Chorwerke: „Nänie“ und „Ein deutsches Requiem“

Johannes Brahms! Im April dieses Jahres waren 25 Jahre vergangen, seitdem der größte niederdeutsche Tonmeister die Augen für immer schloß. Es ist ihm wahrlich nicht leicht geworden, die Aner­kennung seiner Zeitgenossen zu finden. „So schwer wie ich hat's nicht leicht jemand gehabt“ sagt er einmal in Erinnerung an seine Jugend. Und Robert Schumanns prophetische Worte, die er nach der ersten Bekanntschaft mit dem jungen Brahms in der „Neuen Zeit­schrift für Musik“ unter dem Titel „Neue Bahnen“ veröffentlichte: „Ich dachte, es würde und müsse plötzlich einmal einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, ein Minerva, gleich vollkommen gepan­zert, aus dem Haupte der Kronion spränge. Und er ist gekom­men, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten.“ — Grade diese begeisterten Lobesworte erweckten einen erregten Streit der Meinungen, der bis heute noch nicht ganz verstummt ist. Bis auf den heutigen Tag ist auch noch keine zugleich unbefangene und gebührende Bewertung seiner Bedeutung für die lebendige musikalische Kultur der Gegenwart und für die musikge­schichtliche Entwicklung gefunden. Zählt der Meister vorwiegend zu den Klassikern oder den Romantikern? Wir kommen der Wahrheit gewiß am nächsten, wenn wir uns dem Urteil Naumanns anschließen, der Brahms unter den neudeutschen Tonmeistern sowohl als hervor­ragendsten Vertreter jener von Bach und Beethoven uns überlieferten durchgeistigten klassischen Kunstformen wie auch als ausgeprägten Charakterkopf nach der romantischen Seite, als Dichter in Tönen bezeichnet. Wenn Brahms im Gegensatz zu den Neudeutschen das Material seiner Tonsprache aus der Vergangenheit holte, so ist das bei weitem kein Grund, ihn darum als „Epigonen“ anzusehen. Seine große Bedeutung besteht vielmahr darin, daß er die überlieferten Kunstformen der Symphonie, der Kammermusik und Vokalmusik mit ganz neuem Inhalt anzufüllen wußte, daß er die Tonsprache der Klassiker in neuer Weise umprägte, mit modernem Geist erfüllte und damit der Musik ganz neue Werte zufügte. So ist das Wesentliche an Brahms Musik der tiefe Empfindungs- und Stimmungsgehalt, der aller­dings nicht immer leicht zu erfassen ist. Das Wort vom „herben“ Brahms mag wohl zutreffen, nur mit dem Zusatz, daß der Meister uns zwischenhinein oft genug Klänge blühender Romantik vorzaubert.

Zu der 1. Brahmsfeier, die der Oratorienverein im Gedenken an die 25jährige Wiederkehr des Todestags unseres „Meister Johannes“ gestern abend in der Nikolaikirche veranstaltete, waren zwei Chorwerke gewählt, die Schillersche „Nänie“ op. 82 und „Ein deutsches Requiem“ op. 45. Beide Werke haben die gleiche Veranlassung: die Klage um einen teuren Toten, beide ergänzen gewissermaßen einander; bei beiden bestimmt der Text und die Stimmung die Komposition bis in das Klangbild hinein. — In der „Nänie“ betrauert Brahms den allzu frühen Tod des ihm geistesver­wandten Malers Anselm Feuerbach und widmet diese Trauerode der hinterbliebenen Mutter. Es ist eine antike Totenklage, ein Sterben in Schönheit, es ist der ernste und milde Ton der Trauer und des Trostes, der in dieser Musik voll Anmut und Lieblichkeit erklingt.

Bestimmt in der „Nänie“ die antike Anschauung von dem Tode als den freundlichen Zwillingsbruder des Schlafes die musikalische Auslegung, so in dem „Deutschen Requiem nach Worten der heiligen Schrift“ die christliche Auffassung von dem Tode des Gottes­fürch­tigen als von einem Uebergang vom Erdenleid zur Himmelsfreude. Das Werk ist unter dem Eindruck des Todes der Mutter unseres Meisters entstanden und gehört zum schönsten, was die neuere religiöse Musik aufzuweisen hat. Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Darüber habt ihr Traurigkeit. Aber ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? So kann der gläubige Christ rufen und bekennen: Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft. Darum: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben; sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach. — Das etwa ist der Gedankengang dieses „protestntischen Requiems“, wie man es vielleicht nennen darf. Jeder dieser sieben Sätze hat seinen beson­deren Charakter. Im ersten bis dritten Satz die ergreifende KLage über die Nichtigkeit des menschlichen Lebens, im vierten bis letzten Satz die Wonne über die Seligkeit der Erlösten.

Der große Chor des Oratorienvereins sang mit so edler Tongebung, so prächtiger dynamischer Abschattung, daß kleine, bei einem so riesigen Klangkörper fast unvermeidliche Trübungen der Intonation gar nicht weiter ins Gewicht fallen. Wie trefflich war der Geist der Musik erfaßt! In der „Nänie“ erklang dieses „Kleinod musikalischer Lieblichkeit“ in abgeklärter, klassischer Ruhe, ohne besondere Akzente des Schmerzes, der Verzweiflung oder Klage. Wunderbar war das groß angelegte Crescendo bis hin zu dem majestätischen Fis-dur, wo die schaumgeborene Aphrodite dem Meere entsteigt. Und ruhevoll verklang das Ganze mit dreimaligem „herrlich“.

Herrlich waren auch die Chöre in dem „Deutschen Requi­em“, weit geschlossener in der Durchführung all der wunderbaren Klangbilder wie in der ersten Aufführung in der Osterzeit dieses Jahres. Der Chor hat sehr an Einheitlichkeit gewonnen, es klang alles wie aus einem Guß. Ob der Chor für die milden Trostesworte „Selig sind, die da Leid tragen“ den schönsten Ausdruck fand, ob er den groß angelegten Satz „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“ am tref­fendsten ausmalte, ob er den Jubel bei den Worten „Ewige Freude wird über ihrem Haupte sein“ oder die Schrecken des jüngsten Ge­richts am packendsten wiedergab, das sind nebensächliche Fragen. Es genügt ja vollständig, festzustellen, daß die Gesamtwirkung, man möchte sagen, unübertrefflich schön war.

Das Hauptverdienst daran gebührt freilich in erster Linie dem Chormeister, Professor Dr. Stein, der all seinen Eifer, seine Mühe und Ausdauer und nicht zuletzt seine Kunst in der Führung großer Massen nun mit wohlverdientem Erfolg gekrönt sieht. — Auch das verstärkte städtische Orchester hat seinen Ruhmesanteil an dem schönen Gelingen. Es musizierte mit feinem Verständnis für die Eigenart des Schöpfers jener beiden Kunstwerke. Besonders sei auch der Harfe gedacht, die ihre poesievollen Klänge so fein in den Klagegesang zu verweben wußte. — In dem Organisten Oskar Deffner lernten wir einen Künstler kennen, der aufmerksam und mit gutem Gelingen am Werk war.

Dr. Wolfgang Rosenthal aus Leipzig sang die Baritonsoli. Sein vornehmes, intelligentes Singen ist früher schon gewürdigt worden. Es wollte scheinen, als ob die Klangschönheit diesmal etwas beeinträchtigt war, vielleicht eine Folge zu angestrengter Tätigkeit. Eva Bruhn aus Essen, auch von früher her noch im besten Andenken, entzückte mit ihrem weichen Sopran in dem von Brahms nachkomponierten, an Schönheit überreichen fünften Satz „Ihr habt nun Traurigkeit“ alle Hörer.

Die Kirche war gedrängt voll, ein schönes Zeichen für das Verlan­gen nach ernster weihevoller Musik. Es wird wohl nur wenige gege­ben haben, die das Gotteshaus verließen, ohne einen nachhaltigen Eindruck von der wunderbaren Macht der Töne mitzunehmen, von der ebenso sanften wie eindringlichen Gewalt, die aus der herrlich tönenden Welt des großen Sohnes unserer engeren Heimat zu uns geredet hatte, unseres Johannes Brahms! J. Martens.

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Siehe auch Paul Becker.

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