Kieler Neueste Nachrichten, 07.07.1920
Oratorienverein Kiel
2. Sonderkonzert.
Es ist besonders erfreulich, daß der Oratorienverein sich mit seinem kleinen A-cappella-Chor in den Dienst der Lösung von Aufgaben stellt, wie sie innerhalb seiner umfang- und abwechslungsreichen Vortragsfolge durch Namen wie Liszt und Mozart gekennzeichnet werden, und daß er auch die Pflege des reinen A-cappella-Stils sich angelegen sein lassen will, jener feinsten, wenngleich sehr schwer zu voller Schönheit zu entwickelnden Blüte des Edelgesanges. Daß der noch nicht sehr lange bestehende Chor gestern in der Nikolaikirche bereits so Treffsicheres leistete, gründet sich einmal auf hier vorhandenes, sehr gutes Material, insonderheit in den Frauenstimmen, sodann aber auch erweist es sich als Folge der hoch zu bewertenden chorbildnerischen Fähigkeiten Professor Steins. Außer dem von Brahms gesetzten alten Volkslied „In stiller Nacht“ gelangen hier die beiden letzten Marienlieder — namentlich das zweite — am besten; im ersten machte sich die noch nicht bis zu den erreichbaren letzten Feinheiten gelangte An- und Ausgleichung der vier Chorstimmen am meisten bemerkbar. Vielmehr erkenne ich den Höhepunkt der gesamten chorischen Darbietung des Abends in dem gleich zu Anfang nach jeder Richtung hin ausgezeichnet zur Begleitung der Orgel (Herr Bustorf) gesungenen Pater noster, einer Leistung, die zu der Hoffnung berechtigt, daß dem Chor einmal die Pflege der Altmeister der großen A-cappella-Periode in der Entwicklung unserer Kunst erfolgreich wird übernehmen können. Von schöner Wirkung war auch Mozarts Laudate Dominum. Hier gesellte sich außer der Orgel (Herr Bustorf) und einem kleinen Streichorchester die Solistin des Abends, Fräulein Anna Hesse aus Berlin, dem Chor hinzu. Ihr außergewöhnlich hoher, tragfähiger Sopran trat hier mit ausgezeichnetem Erfolg in die Erscheinung, was von seiner Betätigung in den Händelschen Sologesängen nur mit Einschränkung gesagt werden kann. Namentlich in der Samson-Arie wurde die Höhe wiederholt von Intonationsschwankungen und Neigung zu einer gewissen Schärfe der Tongebung in ihrer sieghaften Wirkung beeinträchtigt. Zu Anfang des Konzerts spielte Prof. Stein J. S. Bachs große Fantasie und Fuge G-moll. In der Fantasie interessierte die freie künstlerische Gestaltung. Die Fuge zeichnete sich aus durch saubere Technik, fließende Kontrapunkte und wohlerwogene Abschattung des Klanges. In der Thematik hätte stellenweise noch größere Klarheit herrschen können, eine Erscheinung, die wohl zum Teil auf Konto der in mittleren Stärkegraden unzulänglichen alte Orgel zu suchen ist. Mozarts Sonate für Orgel mit Begleitung von zwei Violinen und Baß, von Rheinberger bearbeitet, ist musikalisch zweifellos ganz wertvoll, leider aber — bis auf den Schluß — ganz und gar nicht orgelmäßig. Zudem musizierten die Violinen nicht immer ganz rein. Die Couperinschen Stücke „Die Nachtigall“ und „Rondo“ erheben sich in ihrer Bearbeitung für Orgel nicht über den Rand interessanter klanglicher Spielereien. W. O.