Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 15.09.1920

Beethovenfeier

Zweites Konzert

Der Haupt- und Schwerpunkt des zweiten Konzertes lag zweifellos in der Darbietung der Missa solemnis, jenes überragend großartigen Werkes, das dem Meisteer unter den Händen in seinen Ausmaßen ins Riesenhafte anwuchs und dennoch von ihm in wahrhaft genialer Weise gemeistert wurde. Das Riesenwerk stellt natürlich dementspre­chende Anforderungen an alle Ausführenden. Schier unüberwindlich erschienen manche Schwierigkeiten, die sich dem Komponisten, unbekümmert über das „Wie“ ihrer Lösung, aus der Entwicklung erhabensten Gedankenfluges wie etwas ganz Selbstverständliches ergaben. Und daß ich's nur gleich sage: es gereicht dem Chor und seinem ebenso mutig-frisch ihn anfeuernden, wie geschickt ihn an gefährlichen Stellen vorüberführenden Dirigenten zu hoher Ehre, daß das große Werk gelang und so gelang, wie es gelang. Wenn beispielsweise ein Chorsopran den Anforderungen, die die geradezu ins Ungeheuerliche sich steigernde, so ziemlich alle Möglichkeiten der Fugentechnik erschöpfende Schlußfuge des Credo „Et vitam venturi saeculi“ erhebt, in so trefflicher Weise gerecht wird, wie solches dem Festchor unter erfreulicher klarer Herausarbeitung der Struktur glückte und er dann noch Kraft hat, das hier wunderbar sich anschließende Amen durchaus wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, dann alle Achtung! Ueberhaupt gerieten die prachtvollen Fugen und fugierten Stellen des Werkes verhältnismäßig gut. Man merkt, daß Prof. Stein von der Orgel und von Sebastian Bach herkommt und mit „Führer“ und „Gefährten“ und allen Schikanen ihrer Verwicklung, Verkettung und Lösung vortrefflich umzuspringen weiß. Es kam denn auch die großartige Fuge „In Gloria Dei patris amen“, bei der die Posaunen das Thema mitspielen, zu anschaulicher Gestaltung. Selbst die viel gefürchtete Stelle „Qui sedes ad dexteram“ („der du sitzt zur Rechten des Vaters“) mit dem sechsmaligen hohen C der Chorsoprane gelang immerhin aller Ehren wert, und die wundervolle Durchführung, die Beethoven dem „miserere nobis“ hat angedeihen lassen, gehört zu den bestgelungenen Partien des Abends. Es würde zu weit führen, wollte ich noch mehr über Einzelheiten mich verbreiten. Zweier Stellen indes sei noch kurz gedacht. Zunächst der packenden Darstellung des jüngsten Gerichts „Judicare“ mit dem plastisch gegebenen, machtvoll drohenden Sekundakkord feses ges h des ges, dem klanglich höchst eigenartig in die Erscheinung tretenden Gegensatz von vivos und mortuos (die „Lebenden“ und die „Toten“) und dem fugierten cuius regni. Und sodann das wunderschöne Sanctus und seines mit Recht als Glanzpunkt der gesamten Messe bezeichneten Benedictus, in dem Meister Flesch' herrliche Solovioline an der prächtigen Gesamt­wirkung gewichtigen Anteil hatte. Und damit wäre ich denn bei den Solisten angelangt.

Was dem ersten Konzert am Sonntag Frau Quast-Hodapp war, das bedeutete dem zweiten Meister Karl Flesch aus Berlin. Er ließ Beethovens doch nun einmal unvergleichlich herrliches Violinkonzert technisch und inhaltlich gleich vollendet erstehen in einer Reinheit und Abgeklärtheit der Tongebung, der von Erdenschwere nichts mehr anhaftete, übrigens vortrefflich begleitet vom Orchester. Und endlich das Soloquartett. Es hat vollauf gehalten, was es nach seiner Mitwir­kung in der „Neunten“ versprach. Der Eindruck, daß die vier Stimmen ausgezeichnet zueinander paßten, hat sich mir zur Hauptsache auch in der Missaaufführung erhalten, ja mit Rücksicht in erster Linie auf die beiden Frauenstimmen — Eva Bruhn aus Essen (Sopran) und Ottilie Metzger-Lattermann aus Dresden (Alt) —, in denen das Quartett entschieden seine stärkste Seite hatte, und den Tenor (Waldemar Henke) noch gefestigt. Theodor Lattermann (Baß), der zweifellos auch über hohe gesanglich-musikalische und künstlerische Qualitäten verfügt, erschien zuweilen in der hier zu lösenden, besonders gearteten Aufgabe rein klanglich nicht ganz so glücklich. Das Orchester spielte mit erkennbarer Hingebung, prächti­ger Klangentwicklung und ausgezeichneter Disziplin. Die Solisten und der verdienstvolle Dirigent, Prof. Dr. Stein, wurden mit Recht lebhaft gefeiert. W. O.

Zuletzt geändert am