Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 27.03.1921

Karfreitags-Konzert.

Die Matthäus-Passion von J. S. Bach.

Karfreitag —

An ihm geschah das erschütternste Sterben, das die Welt je sah. In völliger Vereinsamung geschah es und im endlichen Ausklang völliger Ueberwindung. Und dieses leidvolle Sterben, erhöht am Kreuze auf Golgatha, gepeinigt von spitzen Dornen und Nägeln, sieht um sich die wilde, entartete Menge, die mit dem Rufe „gib Barabam frei!“ sich für das Böse entscheidet, mit dem „Kreuzige ihn!“ das Edelste von sich stößt.

Karfreitag — ein tiefer Trauertag ist es in Gedanken an Mensch, Menschheit, Menschlichkeit — —

Die gewaltige Christus-Tragödie hat in Malerei und Skulptur, in Dichtung und Musik durch die herrlichsten Kunstwerke ihre Verehrung, ihre Anbetung gefunden. Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion gehört zu den edelsten Passions-Darstellungen, die wir haben. Bachs Geist waltet schon in der poetischen Textbehandlung, auf die er sei­nen Einfluß dem Dichter Picander gegenüber geltend machte: Bachs poetischer Sinn ließ die Choräle auswählen so schön, wie es von niemand besser und den Augenblick erschöpfender hätte geschehen können; Bachs dramatischen Empfinden ließ manche Teile dieser Passion in ereignisreichem Bewegen sich plastisch abspielen, denen er dann die Augenblicke nachdenklicher Beschaulichkeit und frommer Betrachtung anfügt.

Als Mittel zur Darstellung dessen, was unsern lieben Herrn Seba­stian, den Verehrungswürdigen, den Heiligen der guten Töne in Seele und Geist beschäftigte, hat das Orchester eine große Aufgabe zu erfüllen. Wir erleben in diesen Klängen alles: Last und Leid und Zagen, feierliche Freude am Hoffen und Gewißsein. Man hört diese Klänge nie erschöpfend aus, es gibt jedesmal Neues und Ueberra­schendes zu eleben. Die Bachschen Orchesterstimmen sind wahrhaft ein Seelenvolk, in dem jeder einzelne ein Wesen für sich und ein guter Kamerad des andern ist. Wenn nicht jeder Musiker an seiner Stim­me aus sich so musiziert, daß er in innerem Erleben Liebe und Glau­ben hineingießt in sein Spiel, dann wird kein Dirigent der Welt die Partitur erschöpfen können.

In den Chören geht es nicht minder lebens- und eindrucksvoll her. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die tobende Masse darzustellen und die Menge der Gläubigen. Sie geben den großartigen Hintergrund, auf denen sich die Seelenstimmungen in ihrem Wechsel abheben. Vom gewaltigen Doppelchor mit seinen Anrufen und Antworten bis zum versonnenen Eboralchor ist alles voll Kühnheit und Größe und Schön­heit an Klang und Form.

Herr Professor Stein leitete die Aufführung, die im Stadttheater stattfand vor einer andächtig lauschenden Zuhörerschaft. Er hielt die vielspältigen Kräfte, die so empfindsam und dabei großzügig zu arbei­ten haben, in schöner Ordnung sicher beisammen und führte sie zur Einheitlichkeit des Wirkens. Einige Episoden kamen zu ergreifen­der Schönheit, das Ganze zu hingebender Darstellung. Der Oratori­en­chor, gegliedert und abgestuft in Einzelchören, dann wieder zu einem Ganzen gefügt, sang klangschön und rhythmisch scharf, dabei doch biegsam in der Deklamation. Angenehm wirkte die Kraft-Erfassung der Choräle, die der Ritardando-Anwendung erfreulich aus dem Wege ging. Der Knabenchor der 1. Knaben-Mittelschule unter Herrn Truelsens Leitung sang den cantus firmus.

Das Orchester wurde seiner Aufgabe voll gerecht und gab dem Singen die rechte Untermalung. Instrumental wirkten mit Herr Konzertmeister Träger, der das unsäglich schöne Violinsolo feierlich spielte. Herr Kraft (Soloflöte), die Herren Lauschmann und Wolter (Oboen d'amore), die Kapellmeister Schmitz an der Orgel und Boruvka am Cembalo führten ihre Aufgaben sicher durch.

Die solistischen Partien hatten zum Teil gute Vertreter gefunden. Kammersänger Niethan aus Dessau sang mit leicht anschlagender Stimme den Evangelisten und die Tenor-Arien und Tenor-Rezitative. Er hatte eine große Aufgabe zu bewältigen, die er mit wohlklingendem und charakterisierendem Gesange zu meistern vermochte. Herr Dr. Rosenthal-Leipzig meisterte in gleicher Weise die Darstellung der Jesus-Worte. Der Ausdruck, der schlicht blieb und dessen Größe im gleichsam transzendentalen Erfühlen lag, bot die rechte Fassung von straff geführter Lyrik und gemildeter Dramatik. Herr Schlenker sang die Partien des Petrus, Judas, Hohenpriesters, Pilatus. Fräulein Stuhr setzte ihren fein klingenden Sopran zu gutem Gelingen ein, wenn ihm auch das Strömende und damit die überlegene Hoheit im Klang nicht voll gelingen konnte. Fräulein Adam-Leipzig sang die Alt-Arien wohlklingend und mit gefestigtem Ausdruck.

Wohl jede Matthäus-Aufführung läßt irgendwelche Wünsche offen. Ueber Auffassungen läßt sich verschiedener Meinung sein. Der über­wiegende Eindruck entscheidet, und der war hier gewinnend. Nur: es war zu viel mit Generalprobe und Konzert am gleichen Tage.S—g.

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