Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 30.10.1921

Erstes Symphoniekonzert

des Vereins der Musikfreunde.

Pan ist erwacht! der große Pan! — Gewaltige Töne des Widder­horns verkünden es allem, was lebt in Wald und Feld. Seltsame Gestalten sind es, die daherkommen in Bocksprüngen und im leichten Tollen. Es formt sich zum Bacchuszug mit Geschrei und Gekreisch. Das gibt bunte Bilder, wenn die dicken Faun-Väter tapsen und die Jungen unter dem Tanzlied der Panflöten den Mänaden das Panterfell von den Schultern reißen. Die Dryaden schwirren unter dem zitternden Gerassel der Schellentrommel ... je nun, wenn der Komponist Gustav Mahler seiner dritten Symphonie, dem sechs­sätzigen Werke, diese und ähnliche romantische Naturstimmungen zugrunde legt, so gibt das zwar einen Fingerzeig, wie der Zuhörer sich vor diesem Werke zu verhalten hat, aber es soll doch kein eigent­liches Programm bedeuten. Beethoven bringt in der „Pastorale“ auch Stimmungen, dazu eine wirkliche Szene am Bach und eine vom Aufruhr der Elemente. Aber er stilisiert und adelt, während die Szene bei Mahler als ein Maskenzug der Naturgeister realisiert erscheint und vor schriller Heftigkeit nicht zurückschreckt. Seltsam, wie Mahler sich in Werk und Wort widerspricht. Denn er ist kein Verfechter des musi­kalischen Programms, das so leicht falsche Vorstellungen erzeugt. Er will im Grunde dem Zuhörer seine eigenen Gedanken über das aufge­führte Werk lassen und predigt den schönen Zwang der Empfindung, den der Komponist auf seine Zuhörer ausüben muß, will er sein Ziel erreichen.

Nun werden alle Geister in der Gemeinde der Zuhörer frei und Mahlers Werk steht wie ein befestigter Stand inmitten der offenen Feldschlacht. Ein trotziger Stand. Der Meister ist tot, aber sein Werk, leidenschaftlich umstritten, streitet selber für sich und seinen Schöp­fer und will, wo man nicht lieben kann, aus eigener Stärke seine Anerkennung ertrotzen. Was bleibt, ist ein Werk, erfüllt von einem kaleidoskopischen Spiel der musikalischen Gedanken, ein Werk, gefüllt mit Seltsamkeiten, die dem naiven Zuhörer formlos und abweisend vorkommen, wohl gar als ein Gebilde der Planlosigkeit im Mosaik sei­ner Ideen. Und doch ist alles organisch gebaut, die musikalische Logik in unerbittlicher Klarheit durchgeführt! Der Verstand hat das Gesetz diktiert. Wenn Mahler von Mensch, von Engeln und Liebe erzählt, so gibt er mehr klingende Philosophien als klingende Seligkeiten.

Mahler nimmt sich den Text zu den Gesängen dieser Symphonie aus der gedankenschweren „Zarathustra“-Welt Nietzsches und dem gefühlsreichen Schatze, der in „des Knaben Wunderhorn“ verwahrt liegt. Aus dieser Zusammenstellung sind die beiden Seelen der Mahler-Musik deutlich zu erkennen. Die eine hält sich an die Welt mit fröhlichem Behagen, und fast volkstümlich anmutende Züge tun sich dann in Mahlers Musik auf, z. B. in einer Klangformel „Ich hab' mich ergeben“; die andere hebt sich zum Duft, zu den Gefilden einer mystisch gerichteten Philosophie, und grübelnd, tastend, beschwert mit lastenden Themen, die ihre Intervalle zu spekulativ anmutenden Gebilden fügen, erklingt eine Musik von hohem artistischem Wert. Ohne Wagners und Bruckners Kunst ist Mahlers Pathos nicht denkbar. Daneben steht ein heiter anmutendes Schubertsches Wienertum, ein naives, fröhliches Musikmachen. Zackig und sprühend bewegen bewegen sich Bizetsche Rhythmen. Aber es handelt sich nicht um ein „Räuspern und Spucken“, den anderen abgeguckt, sondern es han­delt sich um eine respektgebietende starke Eigenwilligkeit. Das fesselt. Das liebliche Menuett, das Scherzo führt zum mysteriösen vierten Satz mit seinem Altsolo, zum „Bimmbamm“ des Knaben-, zum fein erdachten Schlußchor, dem das Orchester ein wieder spekulativ gehaltenes Machtwort anfügt. Das ganze bietet einen hohen artistischen Genuß, aber mit Nietzsches Wort kann man dabei sagen: „Der Frost der Einsamkeit macht mich zittern.“

Alle Ausführenden, das verstärkte Städtische Orchester, der Frauenchor des Oratorienvereins, der Knabenchor, waren hingebend dem Werke dienstbar, das zum ersten Male in Kiel erklang. Dem Leiter Herrn Professor Stein gebührt volle Anerken­nung für die Aufführung. Alle Kräfte stimmungvoll in eins zusammen­zufassen, ist unsäglich schwer. Es kam zu etlichen besonders eindrucksvollen Einzelheiten. So verschieden die Aufnahmeart und -fähigkeit der Seelen ist, so verschieden wirkt das Werk, dessen Werben wahrlich nicht in schmeichelnden Formen geschieht.

Als Solistin war Kammersängerin Fäulein Emmi Leisner gewonnen, die Arien von Gluck und Lieder mit Orchesterbegleitung von Richard Strauß sang. Das Klangmaterial dieser Altstimme ist so ergiebig und die technische Handhabung so überlegen, daß der Gesang interessierte. Er befriedigte aber nicht in gleichem Maße. Die Tiefe kann schattenhaft, die Höhe beengt klingen; trotzdem bleibt genug Schönes, das erfreut. Im Piano zeigt diese Stimme ihren Klangadel am reinsten. Gegen das Orchester konnte sie nicht immer aufkommen.

Das Konzert, das an die Aufnahmefähigkeit der Zuhörer nach Inhalt und Zeit hohe Anforderungen stellte, eröffnete Glucks Ouver­türe zu „Iphigenie in Aulis“ mit dem dramatischen Schluß von Wagner. Auch Mozart schrieb einen Schluß, der ouvertürenhaft verläuft. Glucks Schluß ist verloren gegangen. Einen musikalischen Torso zu ergänzen, ist so schwer, wie der Aphrodite die fehlenden Arme zu geben. Gluck-Wagner ist das rechte Geistespaar. S—g.

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