Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 24.01.1921

Verein der Musikfreunde.

Viertes Symphonie-Konzert.

An der Spitze des abwechslungreichen und fesselnden Konzert­abends stand Johannes Brahmsens zweite Sympho­nie, D-dur, Werk 73. Wir Norddeutschen verstehen es wohl, daß manchem Musikfreunde aus den mittleren und südlichen Gauen unseres Vaterlandes — von den Romanen ganz zu schweigen — die starke Reflexion der Brahmsschen Kunst ein nicht ganz leicht zu überwindenes Hindernis bedeutet, das ihm das Vordringen in das Innere des Tempels erschwert. Und dennoch gewinnt sie auch unter ihnen beständig an Boden, insonderheit in den Symphonien. Unter diesen ist die hier in Rede stehende wohl die am leichtesten zugäng­liche. Wem Theodor Storms Poesie etwas bedeutet, der findet in dem wundervollen ersten Satze ihren tiefen Gehalt in Tönen lebendig. Auch was an Stimmungsversen aus Wald und Heide unserer engeren Heimat von dem Dichter eingefangen ist, klingt hier in Tönen zurück, und selbst der feine melancholische Schleier des Dichters fehlt nicht. Darum ist uns Norddeutschen unter Brahms Werken die „zweite Symphonie“ unsere Pastoral-Symphonie. Aber auch die anderen Sätze, vor allem der im Allegro con spirito dahinjagende letzte sind voller Eigenart echter Brahmsscher Kunst: reiche Harmonik, weitverzweig­tes kontrapunktisches Gewebe, reizvolle malerische Verschiebungen. Und das alles entwickelt in der strengen Logik eines großen Meisters der Form, der eben seine Meisterschaft nicht selten gerade im knappsten Ausdruck offenbart. Professor Stein hat sich das Werk gründlich zu eigen gemacht. Er schöpfte sichtlich aus dem Vollen. Und da das Orchester ihm mit Hingabe und Spielfreudigkeit folgte, so erstand die Symphonie mit überzeugender Plastik, insbe­sondere in ihrem ersten und letzten Satze.

Ist Johannes Brahms Kunst nicht ganz leicht zugänglich, so die­selbe des viel umstrittenen Max Reger noch viel weniger. Meist will sie mit ganzer Hingabe umworben und in heißem Bemühen erarbeitet sein. Wir, die wir von der Orgel herkomen, wissen das. Ein überreiches, um nicht zu sagen überladenes kontrapunktisches Gewebe mit zahllosen Verkittungen und Verkettungen, eine Unrast der Harmonik mit ihren ewigen enharmonischen Verwechslungen und Umdeutungen erschwert die Zugänglichkeit. Und doch enthüllen sich dem immer strebend sich Bemühenden größere Schönheiten. Selten aber habe ich — bei aller Verehrung des Meisters — wirkliche, echte Herzenstöne in der Regerschen Musik gefunden, abgesehen von einigen seiner Lieder. Und doch ist er solcher fähig. Das beweist sein „Einsiedler“, ein Werk für fünfstimmigen Chor, Baritonsolo und Orchester. Der Chorsatz ist mit seiner reichen Kontrapunktik, seiner mancherlei harmonischen Verschlingung und Lösung, seinen wunder­vollen Durchgängen und Verhaltswirkungen ein echtes Kind Reger­scher Muse. Er stellt den ausführenden Sängern hohe Aufgaben, die unter Steins gerade nach dieser Seite hin besonders kundiger Stabführung durchweg vortrefflich gelöst wurden. Vorübergehende — etwas störende — Neigung der Soprane zu Distonation wurde aus­ge­glichen durch fein getroffene Abschattung des Klanges. Was an tiefe­ren Werten für Herz und Gemüt in diesem Kunstwerk steckt, ist in die fein geführte melodische Linie, die edle Harmonik und den ausgegli­chenen Klang der Instrumentierung eingebettet.

Als Solist wirkte hier Professor Albert Fischer aus Berlin, der freilich seine Hauptaufgabe in desselben Komponisten Hymnus der Liebe zu bewältigen hatte. Die prachtvollen Stimmittel Fischers, seine klare, auf wohl gegründete Behandlung des gesamten Lautapparats und geistige Durchdringung des Wortinhalts gerichtete Deklamation konnten sich hier voll entfalten. Das Werk selbst enthält zweifellos reiche Schönheiten, namentlich des Klanges. Im übrigen liegen die Quellen, aus denen Reger schöpft, doch mehr an der Oberfläche als beim Einsiedler.

Eine Prachtleistung vollbrachten sodann Chor und Orchester in Wolf-Mörikes „Feuerreiter“, diesem genialen Wurf vollendeter Meisterschaft. Es erübrigt sich, darüber noch etwas Weiteres hinzu­zufügen. Und wer dann unter der großen Konzertgemeinde trotz allem noch nicht auf seine Rechnung gekommen war oder zu sein glaubte, der ist es sicherlich durch die Darbietung der Suite in D-dur von Johann Sebastian Bach (in Regerscher Bearbeitung), die, alle Spannungen lösend, den Abend wirkungsvoll abschloß. W. O.

Zuletzt geändert am