Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 10.04.1922

Konzert des Oratorienvereins.

Die „Matthäus-Passion“

von Johann Sebastian Bach.

Die erschütternde Tragödie von dem Leiden und Sterben Jesu Christi hat von jeher die Künstler aller christlichen Völker angezogen. Fromme Dichter, Maler und Musiker sind seit fast 200 Jahren nicht müde geworden, Szenen aus dem gewaltigen Drama von dem Ver­söhnungstod des Erlösers in Worten, Bildern und Tönen auszumalen. Im Mittelalter gingen die Musiker sogar so weit, die ganze Leidens­geschichte des Herrn in Musik zu setzen und sie als eine Art Theater­stück — natürlich ohne Kostüme — aufführen zu lassen. Erst Heinrich Schütz, der geniale Vorläufer Bachs, verwies die musikalische Aus­malung der Leidensgeschichte dahin, wohin sie gehört, nämlich in den Gottesdienst.

Eine andere, gleichfalls für den liturgischen Teil des Gottesdienstes bestimmte Art, die sogenannte oratorische Passion, bei der die ein­gestreuten Choräle dem Gemeindegesang übertragen waren, hat bald darauf der größte evangelische Kirchenmusiker aller Zeiten, Johann Sebastian Bach, zum Vorbild genommen und dnach fünf Passionen komponiert, von denen diejenige nach den Worten des Evangelisten Matthäus sicher die bedeutendste und eindrucksvollste ist. Sie kann, wie Kretzmar sagt, als ideale Lösung der Aufgabe gel­ten, die Leidensgeschichte zugleich mit höchster Kunst und in größter Einfachheit und Verständlichkeit darzustellen. Trotz ihrer großartigen und erschütternder Wirkung war sie bald nach dem Tode des Meisters wie er selbst auch von der großen Menge nahezu vergessen. Da ist es das unsterbliche Verdienst des jungen Mendelssohn, das Werk aus der Staatsbibliothek in Berlin wieder herausgeholt und in der von ihm geleiteten Singakademie 1829 zu erneuter erfolgreicher Aufführung gebracht zu haben. Seit jener Zeit sucht jeder große gemischte Chor seine Ehre darin, dies wunderbare Werk in der Passionszeit aufzufüh­ren. Auch seitdem Kiel in die Reihe der Großstädte eingetreten ist und eine ausgezeichnete Musikpflege besitzt, können wir die Matthäus-Passion alljährlich um die Osterzeit in zumeist ausgezeichneter Wie­dergabe hören. So auch Sonnabend abend in der Nikolaikirche.

Für den Nichteingeweihten ist es nicht immer leicht, hinter den Zusammenhang zu kommen. Er muß wissen, daß Bach die Personen (Christus, Petrus, Judas, Hoherpriester, Pilatus, den erzählenden Evangelisten) und Chöre (der Priester, des Volkes) um die Figuren der „Tochter Zion“ und der „gläubigen Seele“vermehrt hat. Die letzten beiden stellen in Arien, Chören und Doppelchören entweder Betrach­tungen über die einzelnen Leidensszenen an oder sollen die Wirkung der gewaltigen Geschehnisse bei den Hörern noch vertiefen. Diese Betrachtungen mit ihrem oft überschwänglichen Text, ihrer Breite und Ausführlichkeit wollen übrigens unserem Geschmack trotz ihrer tref­fenden Charakteristik und Schönheit mitunter nicht recht zusagen. Diese kleinen Mängel verschwinden aber vor der musikalischen Geni­alität und der Würde und Tiefe religiös-kirchlicher Auffassung, mit der Bach eine Aufgabe gelöst hat.

Die diesjährige Aufführung war in ihrer Gesamtheit eine der eindrucksvollsten, die Kiel erlebt hat. Der Chor leistete an Schönheit der Klangfärbung, an rhythmischer Genauigkeit und eindringlichem Vortrag ganz Außerordentliches. Die Art, wie sowohl die zartesten lyrischen Partien wie auch die ganze wuchtige Dramatik zum Ausdruck kamen, waren von tiefgehender Wirkung. Damit legte der große Chor ein schönes Zeugnis ab von der inneren Teilnahme, mit der er den Inhalt des gesungenen Wortes an sich selbst erlebte. Denn ohne das wäre die große, andächtig gestimmte Hörerschar sicher nicht so tief und nachhaltig ergriffen worden.

Zu dem prächtigen Chor gesellten sich Solisten, die zum über­wiegenden Teil unübertrefflich waren. Vor allem ist da der von frühe­ren Aufführungen her noch im besten Ansehen stehende Bassist Dr. Wolfgang Rosenthal aus Leipzig zu nennen. Ein so vornehmes intelligentes Singen kann man selten hören. Er ist so in den Stoff hineingewachsen, daß er seine große Christusrolle von den Noten frei gemacht hat und sich darum nun mit umso größerer Hingabe dem Vortrag zuwenden kann — den er — man muß es sagen — bewun­dernswert schön und eindringlich gestaltet. Ihm am nächsten steht der Kammersänger Hanns Nietan aus Dessau. Obwohl Opern­sänger von Beruf, hat er sich mit solch feinem Verständnis in die oft schwierige Partie des Evangelisten hineingelebt, daß er mit seinem klaren, kraftvollen Tenor ergreifend und überzeugend wirkte. Arthur Hirschbergs ernergischer, dabei wohlklingender Baßbariton eignet sich für die musikalische Darstellung des Judas, Petrus und Pilatus ganz vorzüglich. Er war gerade in diesen Rollen sehr gut am Platze. Die Rezitative und Arien sang Karl August Westphalen. Sein weicher, biegsamer Tenor klingt bisweilen leicht verschleiert. Aber er ist eine durchaus musikalische Natur, besitzt auch Wärme des Vortrags, so daß eine kleine Unebenheit nicht weiter ins Gewicht fiel.

Von den Damen ist Agnes Leydhecker aus Berlin eine Sänge­rin mit einer so kraftvollen, geradezu imponierenden Altstimme, wie man sie selten hören kann. Sie füllte mit ihrer Prachtstimme den größten Kirchenraum bis zum letzten Winkel aus; auch in Stil und Vortrag eine Sängerin, wie man sie sich zur Wiedergabe Bachscher Musik nur wünschen kann. Margarethe Strunk aus Berlin mußte mit ihrer zwar ganz hübschen, aber verhältnismäßig kleinen, sicher noch entwicklungsfähigen Stimme dagegen etwas zurücktreten. Am auf­fälligsten trat das so außerordentlich verschiedene Tonvolumen naturgemäß bei den Duetten beider Damen zutage. In den Einzel­gesängen konnte Margarethe Strunks Vortrag wohl erfreuen.

Der große Knabenchor unter Leitung von Mittelschullehrer Truelsen sang seine Choräle sauber, frisch und sicher.

Alles, was sonst zur musikalischen Untermalung, die von Bach so überreich und charakteristisch ausgestaltet ist, vonnöten ist, war ganz vortrefflich. Das verstärkte städtische Orchester, darunter Konzertmeister Ernst Träger, Soloflötist Joseph Kraft sowie die beiden Oboe-Bläser, durch Richard Lauschmann und Max Wolter aufs beste vertreten, nicht zum mindesten Dr. Reinhard Oppel mit seinem ausgezeichneten zuverlässigen Orgelspiel und seiner wohldurchdachten sinngemäßen Registrierung — alles half die herrliche Wirkung der Solisten und des Chores noch zu erhöhen.

Das größte Lob aber gebürt dem Leiter des ganzen, Professor Dr. Stein. Er hat es in mühevoller Arbeit verstanden, den tiefen Ernst und die kostbaren Schönheiten dieses Riesen- und Wunderwerkes so klar und überzeugend auszubreiten, daß ihm die vielhundertköpfige Schar andächtiger Hörer nur zu größtem Dank verpflichtet sein kann. Solche Leistungen waren aber nur möglich, weil sowohl der Riesen­chor wie auch die Begleitung seinen Ausdeutungen mit größtem Eifer und liebevoller Hingabe folgten. Alle Mitwirkenden dürfen das schöne und erhebende Bewußtsein, nicht nur allen denen, die gekommen waren, um eine wunderbare Musik zu genießen, sondern auch den anderen, denen es darum zu tun war, sich andächtig und fromm in das Leben Christi zu versenken, Stunden innerer Erhebung bereitet zu haben. Und dafür sei ihnen von Herzen gedankt. J. Martens

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