Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 11.09.1922

Kieler Stadttheater.

Der Brahms-Feier zweiter Teil.

Alle Schönheit und Innigkeit einer begnadeten Musikseele wurden offenbar: Johannes Brahms, unser lieber Meister Johannes, sprach zu einer andächtigen Gemeinde, zu empfänglichen Herzen und offenen Ohren. Wir erkennen es heute: auch Brahms Kunst sind ihre Grenzen gesteckt. Sein Erleben wurzelt in dem lebensschweren Ernst des Nor­dens. Seine Liebe zu Wien ist als das große Gegenthema im Gefühl des Meisters aufzufassen und bestätigt nur den Grundzug Brahms­scher Erlebnisfähigkeit. Wie braust ein Bach; wie aller eleusischen Anmut zugekehrt erscheint Mozart; wie waltet Beethoven Jupiter tonans! Brahms weiß um sie alle, er weiß auch um Schumanns Pro­phetenwort, das ihn verpflichtet, in seinem Schaffen „den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen“. Was er gab, war sein ganzes volles Selbst. Es umapannt ein Stück Altmeistertum und ein Stück Romantik; es umspannt alle Klarheit des Geistes und ein Sichverlieren bis zum Grübeln. Wir lieben Brahms. Er ist zu Bach und Beethoven nicht das gleiche große B, wie es so gern im Buchsta­benspiel gesagt wird. Aber seine Kunst ist nicht in Konkurrenz zu werten, sondern in ihrer ragenden Größe und Schönheit. Wir lieben unseren guten Meister Johannes!

Das „Schicksalslied“ nach der packenden Dichtung von Hölderlin für Chor und Orchester, die Rhapsodie, nach Goethes Worten komponiert für Altstimme, Männerchor und Orchester, zum Schlusse die D-dur-Symphonie: Geschenke waren es, die von Brahms' Psalter kamen und das Herz erquickten. Der Festchor (Oratorienverein) und das Städtische Orchester (verstärkt durch Hamburger Musiker) boten unter der ausgezeichneten Führung Professor Steins eine ungetrübte Leistung mit der Wiedergabe der Werke.

Maria Olszewska sang das Altsolo und drei Brahms-Lieder. Die breit fließende Tiefe, die schwebende Höhe beherrscht die Stimme mit gleicher technischer Sicherheit. Max Reger hat die Lieder zum Klavier „Sapphische Ode“, „Immer leiser wird mein Schlummer“ und „Auf dem Kirchhof“ instrumentiert und damit keinen glücklichen Griff getan. Ehrerbietung vor Reger, dem Meister — aber Brahms möge er lassen, wie er ist. Die Eingangsfigur zum Liede „Der Tag ging regen­schwer“ z. B. ist so unmittelbar aus dem Klavier heraus gedacht, daß sie auf das Orchester nicht übertragen werden kann. Was beim Klavier in diesem Falle dramatischer Ausdruck ist, wird im Orchester­satz zu einem Schüttelklang aus dem losen Handgelenk der Geiger. Anderes klang wieder schön, aber dennoch: statt der Mischung Brahms-Reger haben wir lieber den klaren Brahmsquell. Hat doch jeder Meister seines Schaffens Schönheit und Größe genug.

Herr Professor Stein, der in der Herbstwoche reiche künstle­rische Arbeit geleistet hat, verdiente den Dank der Zuhörer.

Professor Hans Sonderburg.

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siehe auch Paul Becker

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