Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 24.03.1926

6. Symphoniekonzert.

„Acis und Galathea“ von Händel.

Die Gegenwart ist bestrebt, sich Händel neu zu gewinnen. Er galt bislang wesentlich als Kirchenkomponist. Man hatte vergessen, daß er zunächst Opernkommponist war, der in außergewöhnlicher Fruchtbar­keit des Schaffens Werk an Werk reihte, darunter solche, die ganz ihrer Zeit gehörten und ferneren Jahrhunderten nichts Lebendiges bedeuten konnten. Von Händel singt und spielt man im häuslichen Musizieren gern „das“ Largo, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß es sich nicht um eine kirchliche Komposition, sondern um eine weltli­che Opernarie handelt. Inzwischen ist Händel, der Musikdramatiker, für unser heutiges Musikleben wieder bedeutsam geworden. Ein Kreis begeisterter Musikliebhaber in Göttingen wandte sich der Aufführung Händelscher Opern mit größtem Erfolge zu. Fast ähnelt diese ent­scheidende Einwirkung künstlerisch gerichteter Musikfreunde auf die Musikentwicklung jenen Versuchen vornehmer florentinischer Kunst­liebhaber, die zur Bildung der Oper führten.

Händel ist im gleichen Jahre wie Bach geboren (1685 in Halle). Er gehört nach dem Dreißigjährigen Kriege jener Barockzeit an, die Wer­ke voll Formkraft und Geistesgewalt schuf. Blieb Bach im mythischen Dämmerlicht der Kirche der große Fugenmeister, verging sein Leben in engen bürgerlichen Formen, so wurde Händel der Weltmann, der mit Königen und Fürsten umging, und dessen Kunst von Tausenden bejubelt wurde. In seinem Hamburger Wirkungskreise befreite er sich von der Opernlockung Italiens zu einem deutsch empfundenen musikdramatischen Schaffen. Sein Ziel fand Händel in England. Seine letzte und höchste Form ist das Oratorium, das die Weltweite der Händelschen Kunst auf deutschem Urgrunde zeigt. In Londons Westminster-Abtei steht sein Ehrenmal. „Handel“ ist dort zu lesen, aber der Name wird darum nicht englisch, sondern bleibt der deut­sche „Händel“.

Das Neue, mit dem Händel uns heute lebensvoll entgegentritt, ist die Händel-Oper. Man hat auch dramatische Aufführungen der Orato­rien „Saul“ und „Herakles“ versucht. Die neuen verdienstlichen Hän­del-Ausgaben mit ihren stilsicheren Ergebnissen, mit ihren Vortrags­bezeichnungen geben zwar treffliche Winke, aber sollen wir an Händel erwarmen im eigenen Mitschwingen, dann muß seine Kunst aus dem pulsierenden Leben heraus uns erklingen.

Die „Schäferdichtung“ war der getreue Ausdruck des Geistes ihrer Zeit. Es handelte sich um zur Schau getragene Empfindsamkeit. Das gilt auch vom ersten Teile und vom Schluß des Schäferspiels „Acis und Galathea“, das die Liebe des Hirten und der Nymphe be­singt. Eingeschoben ist die groteske Figur des Bergriesen Poly­phem, dessen Liebe zur Nymphe Galathea sich in ungeschlachter Art äußert, und der den Nebenbuhler durch einen Steinwurf tötet. Die Göttin ver­wandelt nach schmerzvoller Klage den holden Hirtenknaben Acis in einen Silberquell, der nun mit seinem Liebessang das Tal erfüllt.

Der „Oratorienverein“ bewährte sich wieder in einer klang­schön und tonsauber durchgeführten Chorleistung, aus der die Aus­führung der chorischen Koloratur noch besonders hevorgehoben sei. Der Chorleiter Professor Stein hat hier vorbildliche Arbeit geleistet. Das begleitende Orchester (Dr. Hoffmann am Cembalo) spielte zart und schmiegsam. Henny Woff gab der Galathea den Wohl­klang ihres Soprans, erste Hemmungen mit technischem Geschick schnell überwindend. Der Tenor Franz Notholt wurde von bläßlicher Lyrik schier verzehrt. Die Empfindungen entbehrten des Aufschwunges im Ausdruck. Gern hätte man den liebenden Acis kraftvoller, den David-Acis in seinem Entschluß, gegen Goliath-Poly­phem zu kämpfen, mutiger gehört. Im Duett und an einigen anderen Stellen entwickelte der Tenorist angenehme Stimmqualitäten. Den Polyphem sang Professor Albert Fischer- Berlin in wuchtig zu­greifender, humorvoll gestaltender Realistik. Chrysander, der Händel-Bearbeiter, gibt dem Riesen einen „Mund“ und das Wort „verrucht“; Albert Fischer sang „Maul“ und „verdammter Acis“ — Merkzeichen der anschaulich durchgeführten Polyphem-Groteske, die so traurig mit einem ersterbenden Pianissimo endet und dem weichen Schäferspiel in einem spukhaft vergrößerten Schattenspiel zum Gegenstück wird. Albert Fischer malte das Rasen und verliebte Hinschmelzen Poly­phems, der hundert Rohre braucht, um „sanfte“ Zaubertöne für seine süße Galathea zu „flö—höhö—höhöten“. In der freien Behandlung des Taktes und der Lockerung der Rhythmen gab er ein Beispiel, wie Hän­del in ursprünglich wirkender Gegenwartsfrische gesungen werden sollte.

Brahms' zweite Symphonie eröffnete dieses letzte Symphonie­kon­zert des Vereins der Musikfreunde. Bei einer gehaltvollen Gesamt­wiedergabe, vor allem im zweiten und im Schlußsatz fand das Werk schöne Erfüllung. Die Zuhörer faßten ihren Dank für die wertvollen Gaben der verflossenen Konzertzeit zusammen in reichem Beifall für das „Städtische Orchester“ und seinen verdienten Dirigen­ten, Professor Stein. S—g.

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