Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 21.11.1924

Bußtags-Konzert
des Kieler Oratorienvereins.

Die Gedanken an Schuld und Sühne, an Tod und Trauer stimmen die Seele des Menschen ernst und wecken die Sehnsucht, wecken das Verlangen nach Entlastung und Trost. Darum erquickt und erhebt sich das Gemüt an den Worten: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden, und die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten — —ich will euch trösten, wie einer seine Mutter tröstet — — selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben — —“ Das „Deutsche Requiem“ von Brahms führt durch Trauer und Trost. Es ist eine scheue Musik, aller stillen Kräfte und Werte voll, die in des Menschen Seele sich regen und nach mild lösender Entspan­nung verlangen.

Die Aufführung des Werkes, das in seinem Wesen wahrhaft deutsch ist, deutsch in der Sprache, deutsch in der tiefen Erfas­sung des Religiösen, deutsch in seinen tief schürfenden Klängen, gelang ausgezeichnet. An erster Stelle ist der Oratorienchor zu nennen, dessen Kennzeichen die Sicherheit in der Beherrschung des Stoffs war. Die Stimmgruppen und alle vereint sangen in leichtem deklamatorischem Fluß und unter sorglich beachtetem Vortrag. Die Sopranpartie vertrat Irene Schmid-Weitbrecht aus Hamburg. Ihre Stimme klang voll, war weich und biegsam in der Tongebung und verließ nicht die klare Umrißlinie. Professor Eduard Erhard aus Wien sang das Baßsolo. Die Stimme zeigte sich geschult, was sich besonders in der Behandlung der baritonalen Hochlage aussprach. Man stellte sich bald auf ihren Klang ums so williger ein, als der Sänger temperamentvoll seinen Vortrag gestal­tete. Das Städtische Orchester musizierte erwärmend. Die Orgelpartie führte Organist Deffner sicher aus.

So wurde diese Aufführung von Brahms' deutschem Requiem zu einem ergreifenden Erlebnis, für das dem Dirigenten Professor Stein gedankt sei. Ja, es darf gesagt werden, daß unter allen bisherigen Konzerten dieser Spielzeit (es sind ihrer viele) diese Requiem-Aufführung die künstlerisch geschlossenste und darum eindrucksvollste Leistung darstellt.

Um so bedauerlicher war es, daß dieser Eindruck durch die fol­gende Aufführung von Bachs Kantate „Ein feste Burg ist unser Gott“ verdeckt wurde. Gleich der erste Einsatz dieses kühnen, gewaltigen Werkes zerschlug die soeben geweckte Requiem-Stimmung. Der Oratorienchor brachte sicher alle Einsätze, die das nach musikalischer Anlage und in seiner geistigen Kraft wuchtige Werk bunt durchein­ander würfelt, und spann den starken Faden seiner Chor-Koloratur. Orchester und Orgel waren recht am Werk. Paul Haußmann blies die wegen ihrer Höhe gefürchtete Partie der Solotrompete. Professor Stein stellte wuchtig erfaßte Tempi hin. Die Solisten traten zurück: Eduard Erhard hatte mit seinem Solo sich zu mühen. Der Tenorist Willy Specht war noch unfertig in seiner Technik, bildete überhelle Töne bei flacher Vokalbehandlung und war nicht Herr der musikalischen Lage. Gustel Hammer gebot über einen angenehm klingenden Alt, den sie durch flackernde Tonführung schädigte.

Das Werk ist so pyramidenhaft gebaut, so fest gefügt sind die Quadern seiner Klänge, daß selbst heftigere Schrammen zurücktreten gegenüber der überragenden Gewalt des Ganzen. Aber gerade wegen seiner Streitbarkeit, wegen seiner alles niederschmetternden Sieghaftigkeit war es nach dem Requiem fehl am Ort. Es wurde zu einem Schmerz für die unter den Requiemklängen erzitternde Seele. Hier hat das Bestreben, viel bringen zu wollen, das Feinste des Abends beeinträchtigt. Mit dem Requiem wäre es genug gewesen, es sei denn, man hätte ihm ein Orgelwerk, etwa ein Choralvorspiel „O Mensch, bewein dein' Sünde groß“ mit nachfolgendem Bachchoral vorangesetzt. Zahlreiche Zuhörer verließen verständigerweise nach dem Requiem das Konzert. Sie sind nicht schreckhaft aufgestört worden aus der trauernd-tröstlichen Requiemfeier. Der weite, tiefe Nachthimmel mit seinen stillen leuchtenden Sternen hat ihnen diese Feier weitergesponnen — S—g.

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