Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 19.03.1924

Konzert des Oratorien-Vereins.

„Die Schöpfung“ von Joseph Haydn.

Der moderne Komponist würde für eine Musik, die das Chaos schildern will und das allmählich aus ihm aufsteigende Gebild der Ordnung, ein Riesenorchester wählen. In musikalischen Kolossal­gemälden würden sich die Schöpfungsphasen abspielen.

Aber es ist müßig, sich auszumalen, was und wie es sein würde, weil schon etwas ist, ein Schöpfungs-Werk, das zu den köstlichsten Besitztümern gehört: Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. Eine schlichte Seele, die bei ihrer Herzenseinfalt doch als eine Kraft voll Kühnheit und Hoheit wirkt und schafft, wohnt in Joseph Haydn. Man sollte es sich abgewöhnen, von diesem großen Meister und vorneh­men Gesinnungsmenschen als von „Papa Haydn“ zu sprechen. Diese schmunzelnde Vertraulichkeit charakterisiert Haydns Wesen und Werk durchaus falsch. Der Meister ist keineswegs der ewig heitere und gutmütige Mensch, dem die musikalischen Einfälle wie von ungefähr daherkommen. O nein, Haydn hat mit seiner Kunst gerungen wie ein Jakob mit dem Engel: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Wollte ihm die Kraft zum Schaffen versagen, dann warf er sich wohl auf die Knie und bat seinen Herrgott in kindlichem Gebet um die Gnade der Kunst. Das ist ein rührendes Bild und zugleich von bestim­mender Charakteristik für Haydns Art und Schaffen.

Haydn war ein Mann aus dem Volke und zählte sich stets zum Volke gehörig. Er ist eine schöne Blüte und eine edle Frucht deutscher Volkskraft. Volksmusik steckt in Haydns Kunst. Sein eigenes Fühlen wurde sein Lehrmeister, sein klangempfindliches Ohr sein Ratgeber. So wurde Haydn in seiner köstlichen, naiv erworbenen Selbständig­keit ein Neuerer auf dem Gebiete der Orchesterkunst. Er brauchte nicht erst Ueberkommenes in geistigen Kämpfen von sich abzuwerfen. Er war immer ein Bestätiger seiner eigenen Ideen, nie ein Reformator fremder.

Diese reich quillende Kunst spricht auch aus seinem Oratorium „Die Schöpfung“. Hinzu tritt ein spezifisch Haydnscher Zug: es ist der Humor. Kann der Witz spitzig werden, ist die Satire bissig, so liegen die Quellen des Humors im Gemüt. Haydns Tonmalerei in der „Schöpfung“ ist keine Realistik und ist nicht Selbstzweck. Alles steht im ganzen und gleicht in seiner feinen Manier etwa der beredten Art eines Spitzweg-Bildes. Ein Meisterstück ist zum Beispiel die musika­lische Begleitung des Textes in der sogenannten „Menagerie-Arie“: wie der gelenkige Tiger emporspringt in etlichen aufschnellenden Tonfiguren; wie auf grünen Matten die Herde weidet, geschildert in einer nur wenige Takte umfassenden, anmutigen Tonidylle; wie am Boden das Gewürm kriecht und sogleich eine schwefällig in Sekunden sich daherwälzende Baßfigur ertönt. Dann beginnt ein Loblied auf Sonne und Seligkeit und Haydn singt dem guten Herrgott droben ein Preislied im — Volksmusiktempo.

Die Aufführung durch den Oratorienverein, dessen Chor sich durch Wohlklang und rhythmische Disziplin auszeichnete, nahm unter Leitung von Herrn Professor Stein einen frohen Verlauf. Frisches Zugreifen und Unbefangenheit des Ausdrucks brachten den Ton der Natürlichkeit für diese Musik zu rechter Geltung. Haydn ist aber keineswegs „leicht“. Dem Orchester fällt bei der Durchsichtigkeit, jede Irrung bloßlegenden Satzweise der Partitur eine empfindliche Aufgabe zu; sie wurde, von einigen Zufälligkeiten abgerechnet, gelöst. Herr Deffner mit seinem Orgelspiel gab dem Tutti Wucht und bot auch zarte Töne, wie beides die Orgel als „Königin der Instrumente“ sie spenden kann. Die mitwirkenden Solisten zeigten treffliche Leistungen: Fräulein Wolff-Köln setzte einen frei schwin­genden, leicht anschlagenden Sopran ein; Herr Dr. Rosenthal-Leipzig einen Baß, der Tiefe und Höhe meisterte; Herr Bauer-Berlin sang die Tenorpartie oratisch leicht im epischen Parlando und klang­schön in den beschaulichen Arien. S—g.

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