Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 09.05.1923

Konzert des Oratorienvereins.

„Missa solemnis“ von Beethoven.

Es ist ein viel beredetes Kapitel, das von den Beziehungen zwi­schen Kunst und Religion handelt. Die Künste haben ihre erste Pflege von der Religion erhalten. Die ersten Erzeugnisse musikalischer Kunst sind dem Kultus geweihte Gesänge. In demselben Maße, wie die Musik mehr und mehr Allgemeingut wurde und nicht nur die religiösen Regungen, sondern alle festlichen und frohen Augenblicke des Lebens sich in Sang und Klang umsetzten, mußte die Kirche sich ihrer Vor­herrschaft auf dem Gebiete der Kunst begeben. Es war nur natürlich, daß die erste weltliche Musik ihre Form und eine Spanne Zeit hindurch auch noch den Inhalt sich von der Kirchenmusik lieh, bis hauptsächlich durch das Emporblühen der Oper eine gänzliche Verschiebung des Schwergewichts eintrat, die am Ende soweit ging, daß Opernformen in die Kirchenmusik übergingen und im Rückschlag ein grimmiger Streit darüber entstand, unter welchen Voraussetzungen der Musik über­haupt die Türen der Gotteshäuser geöffnet sein dürften.

Die katholische Kirche hat in ihrer Messe eine ganz bestimmte Form in der sich die musikalischen Erzeugnisse kirchlicher Kunst bewegen. Der dramatische Wurf, der in der Messe liegt, hat die besten Komponisten immer wieder mit geheimnisvoller Gewalt zu diesem Stoff hingezogen. Der Meßtext erhielt unter ihren musikalisch formenden Händen allgemein menschliche Auslegung; es wurde Eigentum aller religiös, aller groß und edel empfindenden Men­schen. So greift auch Beethovens „Missa solemnis“ weit hinaus über die nur kirchliche Bedeutung der Messe. Sie wendet sich an die Menschheitsgemeinde. Beethoven hatte seine individuelle, eine pantheistisch gegründete Gottesvorstellung. „Sokrates und Jesus waren mir Muster“, schreibt Beethoven mit Bezug auf seine „Missa solemnis“, „das moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns.“ Beethovens Absicht war, bei den Singenden und bei den Zuhörern „religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“. So erleben wir in der „Missa solemnis“ neben der „Neunten Sympho­nie“ Beethovens gewaltigtes Lebens- und Kunstbekenntnis. Nie hat jemand inbrünstiger sein Gebet zum ewig Verhüllten erhoben; nie ist leidenschaftlicher die Bitte um inneren und äußeren Frieden über Menschenlippen gekommen; nie hat Menschengeist aus Qual und Not der Alltäglichkeit höheren Flug genommen zur Höhe einer segenvollen und schönen Größe.

Die Aufführung war getragen von der Sicherheit, mit der der Chor und das Orchester unter der klarsichtigen Leitung des Herrn Professor Stein vereint wirkten. Der Chor des Oratorienvereins hat eine Höhe chortechnischen Könnens erreicht, die ihn schwere Auf­gaben bewältigen läßt. In dieser Messe handelt es sich nicht um die Bewältigung von Intervallschwierigkeiten. Aber die Behandlung der Rhythmik, das Fugato der Stimmen mit seinen vielspältigen Einsätzen, die Chorkoloratur, die gefährliche Hochlage des Soprans verlangen gelockertes Bewegen und gefestigtes Können. Das Städtische Orchester musizierte klangschön, doch traten die Violinen manchmal zu sehr im Gesamtklang zurück. Herr Träger spielte besonders schön das weit ausgreifende, in seliger Höhe schwebende Violinsolo im „Benedictus“. Das Rosenthal-Quartett sei als Ganzes genannt, worin die Anerkennung ausgedrückt liegt, daß die vier Stimmen zum ausgeglichenen Gesamteindruck verschmolzen sind, ohne damit ihre Eigenart aufzugeben. Im Benedictus-Quartett wurde wohl der schönste Eindruck erzielt. S—g

Zuletzt geändert am