Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 23.11.1923

Bußtags-Konzert.

Beethovens „Missa solemnis“.

Jedes echte Kunstwerk hat Seele. Nicht die Form der Musik, son­dern ihr seelischer Gehalt ist es, der uns zu Suchenden macht, bei jedem Hören Neues zu entdecken. Mit einem Kunstwerk voll Seele wird man nie fertig sein; immer wieder wird es unerschöpflich Neues spenden. Die Groß- und Hochwerke der Musik sind mystische Erleb­nisse. Weder der Künstler, der das Werk schafft, noch der, für den er schafft, haben darüber Gewalt. So erleben wir in Beethovens „Missa solemnis“ mehr als die Klarheit eines kunst- und formvoll aufgebauten Werkes. Vielmehr steht hinter dem sinnlichen Eindruck eine zweite andere Welt, in der es erst alle Fülle und Tiefe in sich birgt und über die sich nur in übertragenen Bildern reden läßt. Es ist kein Zufall, daß Beethoven seine letzten Werke geschrieben hat, als er taub war. Die letzte Fessel des Aeußerlichen hatte sich damit gelöst. Was er schafft, steht unter der Heiligung der Erdenferne, nicht der Sinne und des flüchtigen Augenblicks. Die Seele übertönt die Form, mit der Beetho­vens Empfinden in gigantischem Ringen kämpft, einem Lionardo ver­wandt, dem Stoff und Form ein unzulängliches Maß der Unendlichkeit seines tiefen künstlerischen Erlebens und Schauens waren. Die Idee will Vergangenheit und Zukunft verknüpfen und gehört allen Fernen; die Form gehört jeweils der Gegenwart und engt ein. Wie ein wilder Kampf von Titanenkraft und Titanengeist gegen architektonische Regeln und Gesetze nimmt sich Beethovens ungestilltes Ausdrucks­bedürfnis aus. An die Stelle von Verhältnismäßigkeit von Stoff und Form setzt er den Kampf von Kraft und Masse. Eine Faustmusik entsteht, es geht „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“; alle Regio­nen des mythischen Raumes werden in der Missa solemnis umspannt. Das Werk weitet sich riesenhaft. In die eng abgezirkelten kirchlichen Meßformen schieben sich gewaltige Gedankenkomplexe ein, der Seelengeschichte der Menschheit, der Menschlichkeit entnommen. Dem Meister wird Musik zur Plastik, und den gewonnenen form­starken Ausdruck hüllt er wieder ganz in Musik. Ein Schöpfungsakt vollzieht sich von einer Größe und Kühnheit, wie wir ihn in der Geschichte der Kunst selten erleben. So bleibt Beethovens „Missa solemnis“ ein Stück Unendlichkeit im Menschlich-Endlichen, der Triumph der Seele.

Der Oratorienverein unter der Leitung seines bewährten Dirigenten, des Herrn Professor Stein, setzte seine ganze Kraft an ein gutes Gelingen der Aufführung, die unter den Gedanken an Bußtag, an Entlastung und gestärkte Hoffnung stimmungsvoll verlief und von den Zuhörern entsprechend aufgenommen wurde. Das Quartett der Solisten Neugebauer-Navoth (Sopran), Hilde Ellger (Alt), Notholt (Tenor) und Erich (Baß) erfüllte seine Aufgabe und das „Städtische Orchester“ gab dem Ganzen das sichere Fundament. S—g

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