Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 16.12.1925

Konzert des Oratorienvereins.

Weihnachtsoratorium von Joh. Seb. Bach.

Das Weihnachtsoratorium bildet eine Festmusik, die mit drei Kan­taten aus sechs einzelnen, voneinander getrennten Kantaten zusam­mengesetzt ist. Diese Trennung der einzelnen Stücke ist aber nur äußerer Art. Innerlich und ihrem musikalischen Leben nach gehören diese sechs Teile zusammen zu einem großen Ganzen. Das geht, abgesehen von ihrem gleichen Stimmungsgehalt auch aus der Zeit hervor, in der sie wie ein fortlaufendes Ganzes zur Aufführung kamen in der Zeit der „Zwölfnächte“, die vom ersten Weihnachtstage bis zum Fest der heiligen drei Könige reicht.

Dieses „Weihnachtsoratorium“ ist seiner ganzen Fassung nach nicht als Oratorium von konzertmäßiger Form anzusehen. Seine Teile bewegen sich manchmal im Stile des Madrigals. Die Gesänge sind zum Teil weltlichen Gelegenheitsmusiken entnommen und aus ihnen ins Geistliche übertragen. Man muß darum zwiefach vorsichtig sein in ihrer poetischen Ausdeutung, Bach mehr Absicht in der dichterischen und charakterisierenden Uebereinstimmung von Wort und Ton unter­zulegen, als sich wirklich erweisen läßt. Wie lieblich klingen gleich in der ersten Altarie die Ausrufe „den Liebsten — den Schönsten“! Man mußte meinen, hier wäre eine solche gewollte, dazu noch köstlich gelungene Charakterisierung des Textes in Tönen. Und doch heißt es im weltlichen Original an eben derselben Stelle: „ich mag nicht — ich will nicht“. Nur dieses eine Beispiel sei hier erwähnt als Kennzeichen dafür, wie sehr gerade bei Bach die Musik charaktervoll an sich ist.

Der lyrische Teil kommt insbesondere zur Geltung bei jenen Arien, die von solistischen Instrumenten anmutig umspielt werden. Wie schreckhaft und dann wieder die von Violinen unruhig hingeschleu­derten Figuren angesichts der Hirtenangst. Unendlich reich ist das ganze Werk an stimmungsvollen Einzelheiten. Der Grundzug des Ganzen ist festliche Heiterkeit, kindliche Lieblichkeit, die dem Wesen des Weihnachtsfestes erschöpfenden Ausdruck verleiht. Nur aus solcher erquicklichen Stimmung heraus wird man die „Hirtenmusik“ voll auf sich wirken lassen können in ihrer Herzenseinfalt und klingen­den Kostbarkeit. Von unaussprechlicher Milde und Süße erfüllt, unsäg­lich feierlich und doch voll stiller, ruhiger Fröhlichkeit, so zwingt diese wunderbare Stelle des Oratoriums den empfänglichen Zuhörer in ihren Bann, wie das eigene Herz mitgerissen wird in den Jubel, mit dem der Chor anhebt: „Brich an, du schönes Morgenlicht!“ —

Um solcher Chöre und Gesänge willen und weil die einzelnen Szenen dieses Oratoriums wie ein altes Mysterienspiel vor der inne­ren Anschauung greifbar an einem vorüberziehen, endlich um seines transzendentalen Gehalts willen, könnte man dieses Weihnachts­oratorium ein Weihnachtsmysterium nennen. Die Wiege im Stalle zu Bethlehem und das Kreuz auf Golgatha umschließen auch in der künstlerischen Darstellung Dinge, die nicht von dieser Welt einge­geben sind.

An dem reinen Genuß dieses reinen Werkes wird jeder um so ursprünglicher teil haben, je schlichter er sich ihm hingibt, nicht ange­kränkelt von der Blässe kontrapunktischer Erwägungen. Bach ist nicht groß wegen seiner Formen, sondern trotz seiner Formen. Sie werden ihm nicht zum Zwang, sondern zum sanften Hort kühnster Gedanken. Wer erkennen will, wie sehr Bach über dem Zwanghaften kontra­punktischer Formen steht, die ihm nur Mittel zum Zweck sind, der höre sich das Weihnachtsoratorium an. Dieses Werk ist eine helle, lichte Eingangspforte in Bachs Klang- und Geistes- und Empfindungswelt.

Die schöne Aufführung in der Nikolaikirche bereitete allen Zuhörern feine Stunden. Ausgezeichnet waren die Chorleistungen. Einen Gesang im festlich gestimmten Kirchenraum wie der vom Oratorien­verein mit schier entrückter Innigkeit gesungene Choral „Wie soll ich dich empfangen“ vergißt man nicht. Alle Stimmen waren zu einer voll­endeten Einheit verschmolzen, ausgezeichnet waren die Versaus­gänge in der Strophe musikalisch behandelt. Hier ist reiches Lob am Platze für den Leiter der Aufführung, Professor Stein. Frisch und kraftvoll erklangen die Jubelchöre, wohltuend berührte die rhythmi­sche Straffheit. Das gleiche Gelingen waltete unter dem Taktstock im Orchester. Konzertmeister Träger führte die Partie der Solo­vio­line aus, gleich den Kammermusikern Kraft, der die Soloflöte blies, Lauschmann und Wolter, die die Oboen d'amore spielten, einem reichen Entfalten des Tones und einem warmherzigen Spiel hingeben. Das Städtische Orchester füllte mit klangschön ausgeglichenem Musizieren die Kirche.

Auch von den Solisten ist Gutes zu sagen. Was will es bedeuten, wenn im Gesamtbild hie und da eine Linie ein wenig anders hätte geformt, gebogen, gezeichnet sein könnte? Cläre Schultheß-Gerhard aus Leipzig vertrat mit lichtem Klang die Sopranpartie, Hedwig Rode aus Osnabrück stattete mit warm klingendem Alt ihre Arien aus. Der Tenor Robert Bröll aus Dresden wußte die immerhin spröden Rezitative lebenvoll zu gestalten, und Reinhold Gerhardt aus Leipzig führte die Baßpartie würdig durch.

Die Orgel spielte Organist Oskar Deffner. Er bereitete dem Weihnachtsoratorium den Weg mit dem Vortrag der großen Tokkata in F-Dur von Bach. Wuchtig stellte er die beiden gewaltigen Orgelpunkte auf F und C hin, türmte die akkordischen Brechungen mit den kaden­zierenden Akkordschlüssen auf und erwies sich im Gesamtvortrag des Werkes als Beherrscher seines Instruments.

Werke wie Bachs Weihnachtsoratorium sind Werke entzückter Andacht. Eine solche Stunde des Hörens läutert, reinigt, beflügelt alle guten Geister in der Menschenbrust. Unter dem Sonnenschein der Schönheit andächtiger Kunst will auch „ein Ros' entspringen mitten im kalten Winter“. S—g.

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