Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 19.06.1925

Motette in der Nikolaikirche.

Hermann Ungers Konzert für Orgel und Orche­ster, Opus 45, das die umfangreiche und interessante Vortrags­folge einleitete, stellt an den Vertreter des Orgelparts, wie an das Orchester hohe Anforderungen, bietet aber anderseits beiden Teilen dankbare Aufgaben, deren Lösung freilich noch erfolgreicher sich auswirken würde, wenn sich der Komponist entschließen könnte, das Ganze erheblich mehr zusammenzupressen. Namentlich gilt das von dem 4. Satz (Consolation Andante grazioso), dessen technische Durchfüh­rung den voraufgegangenen Sätzen gegenüber doch nicht mit so zwingender Plastik in die Erscheinung tritt, daß das vorher stark in Anspruch genommene Interesse der Hörer ganz neu sich zu beleben vermöchte, wiewohl nicht unausgesprochen bleiben soll, daß vielge­staltige Klangkombinationen und dynamische Abschattungen auch hier wirksam werden. In den mancherlei reichen Abstufungen des Klanges liegt übrigens die Hauptstärke und die eigentliche Wirkung des Werks. Es gibt der von respektabler Könnerschaft zeugenden modernen Orgel in allen Sätzen ausgiebigste Gelegenheit zur Entfal­tung ihrer reichen klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten. Im Verein und im Wechsel mit dem Orchester entstehen prächtige Klangbilder von außerordentlich feiner Differenzierung sowohl wie von hinreißender Wucht. Hier gibt der zu gewaltiger Steigerung sich erhebende Ab­schluß des ganzen Werkens, dort der stimmungsvolle Trauermarsch, auf dessen düsterem Hinter- und Untergrund in einzelnen Soloin­stru­menten des Orchesters tröstende Lichter aufleuchten ein treffen­des Beispiel. Oskar Deffner löste die ihm zugefallene umfangreiche Aufgabe auf der klangprächtigen Nikolaiorgel in künstlerisch hoch stehender Weise, in der auch das Festorchester unter Pro­fessor Steins Führung seinen Part musizierte. Klanglich wa­ren die Blechbläser nicht immer vornehm genug, was übrigens auch bei der Darbietung von Courvoisiers „Auferstehung“ gele­gentlich in die Erscheinung trat.

Dies entschieden bedeutende Werk war von dem Komponisten früher betitelt „Totenfeier“. Wenn es jetzt „Auferstehung“ genannt wird, so ist damit zum Ausdruck gebracht, daß das Werk auf die Ueberwindung des Schmerzes zu freudenvoller Glaubenszuversicht der Befreiung von aller Erdennot und allem Erdenleid in Gott den Hauptwert legt. Die gedankliche Entwicklung, die sich durch das Ganze hindurchzieht, läßt das deutlich erkennen. Im letzten Teile erreicht sie auch rein künstlerisch ihren Höhepunkt. Der erste Teil steht unter dem Eindruck der Vergänglichkeit alles Irdischen. Die Stimme eines Klagenden (Baßsolo) und der eigenartig-schön klin­gende „Chor der Irdischen“ geben ihm Ausdruck. In leuchtendem Gegensatz dazu hebt der „Chor der Himmlischen“, der gleich zu Anfang mit voller Instrumentalbegleitung beginnt und nach einem ruhiger gehaltenen Zwischensatz „Es sprudelt ein Tag“ machtvoll abschließt. (An Wagner erinnernder Fanfarenruf der Bläser). Mit dem Auftreten der „Stimme der Verkündigung“ (Tenorsolo) hellt sich das Dunkel auf und in einem groß angelegten Satz für Chor und Solo­stimmen nimmt die Verkündigung greifbare Gestalt an. („Gottes Tote werden leben“). Werden bereits hier an die stimmliche und musika­lische Leistungsfähigkeit der Sänger hohe Anforderungen gestellt, so wachsen die Anforderungen mit dem Fortschreiten des Werks gegen den Schluß hin ganz erheblich, um in dem großartigen Beschlußchor des ganzen Werks „Lobt den Herrn mit Posaunen.“ das höchste zu erlangen, was Chorstimmen überhaupt hergeben können. Auch ein Knabenchor tritt hier herzu, der sich indes in der Darstellung der Choralmelodie gegenüber den anstürmenden Tonfluten nicht genü­gend Geltung verschaffen konnte. So wurden hier die Bläser die eigentliche Stütze des cantus firmus. In diesem Schlußsatz liegt klanglich der Höhepunkt des auch sonst manche Schönheit — namentlich in den Gegensätzen zwischen Chor und Solisten und den diesen beiden Faktoren mitgegebenen klanglichen Grundlagen der Instrumentation — ausweisenden Werks, wenngleich es durchweg im Ausdruck nicht gerade durch eine starke persönliche Note gekennzeichnet wird. Professor Stein, der mit seinem imposanten Klangkörper umfassende und gründliche Vorarbeit geleistet hatte, führte mit Temperament und beherrschendem Ueberblick seine Scharen trotz aller zu überwindenden Schwierigkeiten zum Siege. Das Orchester und auch der Chor (Oratorienverein und Liedertafel, sowie der Knabenchor des Organisten Bender von der Knabenmittelschule am Winterbecker Weg) hielten sich durchaus auf der Höhe der schwie­rigen Aufgabe, die, als Ganzes genommen, uneingeschränktes Lob verdient. Daran haben gewichtigen Anteil wiederum Herr Oskar Deffner an der Orgel und vor allem die Solisten Henny Wolff (Sopran), Herta von Schmidt (Alt), Franz Rotholt(Tenor) und Prof. Hans Joachim Moser (Baß). Auch hier wurden dro­hende Fährnisse glücklich umschifft. Die Intonation des Tenors war übrigens in der Höhe nicht immer ganz einwandfrei.

Zwischen den beiden großen Werken am Anfang und Ende der Vortragsfolge bot der A-cappella-Chor des Oratoriums Zwei Gesänge aus Opus 71 von Robert Kahn (Uraufführung) künstlerisch hervorragend schön gearbeitete Kompositionen von bedeutendem Wert, namentlich der zweite aus „Sangesopfer“ von Rabindranath Tagore. Der von Professor Steins hervorragend geschulte Chor sang mit so warmer, ausge­glichener und aufs feinste abgeschatteter Tongebung, so vorzüglicher und dynamischer Disziplinierung und so vollendet schönem Vortrag — es gilt das noch ganz besonders im Hinblick auf den zweiten Gesang —, daß hier ein überragender Höhepunkt des ganzen Konzertabends, vielleicht der Höhepunkt lag. Willy Orthmann.

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