Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 26.06.1928

Das zweite deutsche

Händelfest in Kiel.

Das Konzert in der Messehalle.

Oratorium „Israel in Ägypten“.

Händel mag selber staunend vor seinem ersten oratorischen Werk von Eigenart, „Ester“, gestanden haben. Ein seltsames Werk, das da aus innerem Schöpferdrang gefügt war: keine Oper, obwohl von dra­matischem Geschehen durchpulst; keine Szene, obwohl von höchster Anschaulichkeit der Stimmung erfaßt; kein Oratorium, wie man es bis dahin kannte — sondern eine neue Schöpfungsform, Händels per­sönliches Oratorium, ein Gebilde besonderer Art, für das die überkommene Bezeichnung „Oratorium“ kaum ungünstiger gewählt werden konnte.

Händels Oratorium ist aus Händels Geist geboren. Daß es sich vollends zum Konzertstück erheben sollte, verdankt es einem äußer­lichen Umstand. Der Bischof von London erlaubte nicht die dramati­sche Aufführung des Oratoriums in der Kirche. Er hat wider Erwarten der Kunst einen Dienst erwiesen. Denn hinfort fühlte sich Händels Oratorium frei von der Bühne und auch an den Kirchenraum nicht gebunden. Händel kündigte eine öffentliche Aufführung seines ersten Oratoriums nunmehr an mit den Worten: „Es wird keine Aktion auf der Bühne sein, aber man wird das Theater in einer passenden Weise für die Versammlung ausschmücken. Die Sänger und Musiker werden aufgestellt sein wie bei der Krönungsfeier auf einer Galerie.“

So waren auch die Mitwirkenden in der Kieler Messehalle aufge­stellt. Der Raum hat sich bewährt. Er spendete Platz nach allen Seiten, und das Wichtigste: er erwies sich als im ganzen günstiger Klangraum. Kiel ist also in der Lage, großen musikalischen Körper­schaften für ihre besonderen Aufführungen einen geeigneten Raum zu bieten.

In der Messehalle erklang Händels Oratorium „Israel in Ägypten“. Mit der Schöpfung seines Werkes „Saul“ zeigte sich des Meisters Auffassung vom Oratorium, wie er es erschaute, völlig geklärt. Wenige Tage nach Beendigung dieser Tondichtung begann der Meister, er war jetzt 54 Jahre alt, ein neues Werk, ein Riesenwerk. In einem einzigen Monat war es fertig: „Israel in Ägypten“.

Ein Wunderwerk war es geworden nicht nur nach der Art seiner Entstehung, daß chaotisch der Stoff in des Meisters Brust umschlos­sen lag, um von dem Geist des Meisters in einem Dreißig-Tagewerk bereitet zu werden, ein Wunderwerk war es auch seiner Form nach. Nicht verkleinert wird die Riesenleistung durch die Tatsache, daß Händel zahlreiche Sätze seines „Israel“ aus früheren Werken her umformend übernahm, daß er anderen fremden Werken mancherlei entlehnte. Er war nicht Vielschreiber und nicht Abschreiber, er war Gestalter aufs neue übernommenen Gutes. Ein musikalischer Midas, wurde unter seinen Händen alles zu güldenen Klängen. Ein über­ragender Erfolg war dem Werke bei der ersten Aufführung nicht beschieden. Händel hatte seine Feinde, und allerlei Umstände behinderten ihn.

Das Oratorium „Israel in Ägypten“ ist ein Volksepos, denn es erzählt aus der Geschichte eines Volkes, berichtet das Leid der Vielen, die zueinander gehören, die Freude der Menge, die eins ist. Damit tritt der Chor als das gegebene Darstellungsmittel bei diesem Werk in den Vordergrund. Den Chor stellten „etwa 1000 Sänger“, sagt die Mitteilung. Es könnte die Auffassung gestärkt werden, als sei eine Händel-Aufführung um so höher zu bewerten, je mehr Sänger einge­setzt werden können, oder als bedürfe es für Händel-Aufführungen großer Massen, um große Wirkungen zu erzielen. Händel selber stellte in besonderen Fällen ein Orchester von etwa 100 Instrumentalisten auf mit 80 Sängern, die allerdings Berufssänger waren. — In der Kieler Aufführung machte sich die akustische Erscheinung geltend, daß ein Chor der Tausend keineswegs ein wohl gar ungeschlachter Koloß des Klanges ist, daß vielmehr über eine gewisse Stärke hinaus die Differenzierung eines Chores nicht nach der Zahl der Kehlen zunimmt, daß es gleichgültig ist, ob 800 oder 600 Sänger am Werk sind. Bestimmend muß sein, daß die Stimmgruppen des Chores gut gegeneinander abgewogen sind und das Verhältnis des Chores zur Orchesterbesetzung richtige Klangabmessungen zeigt.

Es darf gesagt werden, daß der Chorklang gut war, keineswegs bedrückt von „erdröhnender“ Uebergewalt der Tausend, sondern gebändigt durch die köstliche Satzkunst Händels. Das Orchester wußte sich im Zusammenklang mit der Orgel zu behaupten. Der Streichkörper aber erwies sich wiederholt in der Besetzungszahl der Violinen nicht tragend genug. Händel verlangt zu zwölf ersten Violinen zehn Oboen und andere chorisch besetzte Bläsergruppen. Allgemein Verbindliches muß da zurücktreten gegenüber der Forderung der Stunde, die nur das Gebot des sinnvoll künstlerischen Einsatzes für Händels Werk kennt. Entscheidend ist die Herausarbeitung der künstlerisch vornehmen Wirkung und damit der Gewinn für Händels Werk.

Dafür setzen sich alle Kräfte ein mit würdigem Erfolg. Man kann es sinnbildlich nehmen, daß der Dirigentenstand mit Goldregen geschmückt war. Ein Goldregen der Klänge rieselte und rauschte hernieder von dem großen Podium. Professor Stein leitete die Aufführung mit überlegener Ruhe. Fest hielt er die Massen in der Hand und damit Tempo und Rhythmus in festem Gefüge. Trug das Ende der Händeltage noch eine Last, so war es die freundliche Last des Dankes, die von den Zuhörern vor dem Leiter niedergelegt wurde. Es ist angebracht, auch seiner Helfer zu gedenken, der Dirigenten der beteiligten Gesangvereine aus Altona, Flensburg, Itzehoe, Rendsburg und Kiel, die im engeren Bezirk die Vorarbeiten zu dieser Aufführung geleistet haben, selbstlos um des Werkes willen. Die Erfolge dieser Einzelarbeit, die der Händel-Festdirigent dann zum großen Haupterfolge zusammen­schweißte — es war eine Leistung —, zeigte sich in der ausgezeich­neten, abgetönten und beweglich gehaltenen Aufführung. — Das Städtische Orchester, verstärkt durch gute Kräfte, blieb seiner Aufgabe nichts schuldig. Hervorgehoben sei die virtuose Behandlung des Trompetensatzes in der Baßarie durch Kammer­musiker Haußmann. Dr. Deffner an der Orgel erwies sich wieder als verläßliche musikalische Kraft. Sein rhythmisch bestimmtes Spiel beeinflußte wohltätig die Festigkeit des ganzen Klangkörpers. Professor Seiffert führte wieder die Continuobegleitung aus, und die Solisten bestätigten ihren trefflichenEindruck aus den voraufge­gangenen Konzerten. Vor allem bescherten die beiden Frauen­stim­men Adelheid la Roche (Sopran) und Hilde Ellger (Alt) in ihrem Zwiegesang Köstlichkeiten des Zusammenklanges. Professor Moser beherrschte überlegen seine Partie, und Michail Gi­towsky führte seine Baßarien angemessen durch.

In Summa: Alles, was am Werke half, war guten Geistes voll. So blieb der Erfolg nicht aus; er lobt, die ihn schufen.

*

Das „zweite Deutsche Händelfest“ in Kiel ist verklungen, aber es klingt nach und wirkt weiter. Händel war nie vergessen, doch in der Fülle des Lebens wie heute steht er wieder seit Chrysanders und der Händelfreunde Wirken. Begeistert huldigt ihm die musikalische Welt. Die Kieler Händel-Festtage haben ihr Teil dazu beigetragen, Gemüter und Seelen und Geister für Händel wach zu machen, für den sonnen­sichtigen Meister, dessen alterstote Augen noch immer in den lodern­den Glanz seiner Kunst schauten. Händel ist kein Kirchenmusiker, aber er dient dem Erhabenen; er redet von der Hoheit der Welt, die die Wahrheit des Göttlichen ist — von dem Vergänglichen, das hinüber­führt ins Unendliche — und von dem heiligen Geist des Schönen, daß wir uns von seinem Hauche umschauert und in unserer eng begrenz­ten Zeitlichkeit von Ewigkeit umwittert fühlen.

Professor Hans Sonderburg.

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