Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 06.11.1927

Abendmotette in der Nikolaikirche.

Erstaufführung der „Markus“-Passion von Kurt Thomas.

Und wiederum war es der jugendliche Kurt Thomas, der mit seinem Opus 6, einer Passionsmusik nach dem Evangelisten Markus für gemischten Chor a cappella auf musikalischem Gebiet die eindringlichste Wirkung in der diesjährigen Herbstwoche für Kunst und Wissenschaft erzielte. Man entsinnt sich noch des großen Aufse­hens, das die A-cappella-Messe des damals 21jährigen Komponisten auf dem Kieler Tonkünstlerfest vor zwei Jahren hervorrief. Mußte man sich damals — abgesehen von dem wunderbaren Sanctus — erst nach einigem Befremden an die gewollte Bevorzugung von Ganzton­schritten und die dadurch entstehenden kühnen Harmoniefolgen gewöhnen, so hat Kurt Thomas zu seinem Vorteil sich jetzt durchaus der Tonalität zugewandt. Chromatische Folgen, übermäßige Sprünge, leere Quarten- und Quintenfolgen sind ihm nur ein gelegentliches Mittel zur lebendigeren dramatischen Gestaltung einzelner Szenen. Man darf nur an die Schilderung der falschen Zeugenaussagen bei dem Verhör Christi denken, wie gegen das Ende des erregten acht­stimmigen Chores hin nur noch zwei Stimmen übrig bleiben, die in der Dissonanz ihrer übermäßigen Septimen und lang ausgehaltenen None deutlich erkennen lassen „ihr Zeugnis stimmte nicht überein“, oder an die leeren Quinten- und Oktavenfolgen in den oberen Stimmen bei den Worten: „Jesus aber antwortete nichts mehr.“

Wie bei seiner A-Moll-Messe verzichtet Kurt Thomas auch hier auf die Mitwirkung von Solisten und Orchester und hat es dadurch dop­pelt schwer, sowohl die notwendigen Gegensätze zwischen Erzählung und Rede wie anderseits durch orchestrale Ausmalung gleichsam eine farbige Szenerie zu schaffen. Mit seiner glänzenden Erfindungsgabe, mit seiner geradezu erstaunlichen Fülle an lyrisch wie dramatisch schönen und charakteristischen Gedanken, mit der lebensvollen Gestaltung der ineinandergreifenden Doppelchöre, mit der Sicherheit des Ausdrucks, die ihm zu Gebote stehen, weiß er auch ohne die früher üblichen Hilfsmittel immer neu zu fesseln, so daß man seiner Darstellung nur innerlich ergriffen lauschen kann. Es ist ein schönes Zeichen für den sittlichen Ernst des Komponisten, daß es ihm so über­zeugend gelingt, seine ausgesprochene Neigung zu religiösen Stoffen mit solcher Innigkeit, Kraft und Wärme in Tönen auszusprechen.

Ueberzeugungstreu sang auch der A-cappella-Chor des Oratorienvereins unter Leitung seines ausgezeichneten Dirigenten, Professor Dr. Stein, und damit erreichte er das Schönste, was einem Nachschaffenden zum Lobe gesagt werden kann: er glaubte, was er sang, weil man überall die seelische Durchdringung des gesungenen Wortes herausfühlte, darum wurden die Herzen der Hörer weit, darum lauschte alles ergriffen der macht­vollen Tonpredigt von dem Erlösertode des Heilands, der uns zur Rettung sein heiliges Leben dahingab. Wie fein waren die wechsel­vollen Bilder der Abendmahlsszene und des Seelenkampfes in Gethsemane wiedergegeben, wie aufgeregt gestaltete sich die Schilderung des Verhörs vor den haßerfüllten Hohenpriestern und dem kalten Römer Pilatus, wie erschütternd war die hoheitsvolle Gestalt des unschuldig zum römischen Verbrechertod verurteilten Heilands vor Augen gemalt! Mag sein, daß die dramatischen Höhe­punkte: die Anklage der Hohenpriester, der „Kreuzige“-Ruf des betörten Volkes oder die erhabenen Worte Christi: „Von nun an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten Gottes“ noch kräftiger und damit wirksamer erklingen können. Alles wurde jedoch ausgeglichen nicht nur durch eine Fülle schöner Einzel­züge wie dem feigen Fliehen der Jünger in der Stunde der Gefahr, dem tiefen Fall und der Reue des Petrus oder der geradezu unüber­trefflichen Darstellung der spottenden Kriegsknechte und Juden.

Die mühevolle Arbeit, deren sich Professor Stein und sein ausge­zeichneter, weich und voll und rein singender Chor in langen Monaten unterzogen hatten, wurde reich belohnt. Denn das Höchste ist ihnen gelungen: sie haben durch ihr schönes Singen nicht nur einen reinen künstlerischen Genuß bereitet, sie haben mit ihrer eigenen herzlichen Anteilnahme bewiesen, daß es ihnen ernst war mit den Worten des einleitenden Chorals „Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken“ und haben damit ihre große Hörerschar innerlich erbaut. In den Herzen wird es noch lange nachklingen: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ, daß du für uns gestorben bist, und hast uns durch dein teures Blut wie Gott gemacht, gerecht und gut.“ —

Eingeleitet wurde der Abend durch eine groß angelegte Kompo­sition des Organisten an der Thomaskirche in Leipzig, Günther Ramin, dessen Präludium, Largo und Fuge durch ihr interessantes Thema und ihren kunstvollen Aufbau einen ausgezeichneten Eindruck hinterließen, und das wunderbare Vorspiel zu dem Choral „An Was­serflüssen Babylon“ von Johann Sebastian Bach. Der Organist an St.-Nikolai, Dr. Oskar Deffner, wußte beide Werke mit seiner überragenden Technik und großen Registrierkunst in wirkungssicherer Plastik zu gestalten. Martens.

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Kieler Neueste Nachrichten, 15.11.1927

Die Markus-Passion von Kurt Thomas. Das ist das Werk eines innig kunstgläubigen Thomas, eine Musik aus den Tiefen des Ergriffenseins. Eine heilige Not liegt über ihren Klängen. Es ist das Mysterium der Gottesmenschseele, das dieser Thomas-Musik die eigene transzendente Richtung gibt. Es handelt sich nicht um Mysti­zismus. Nein, in ihr ist alles klar, licht und hell — wie die Sterne, die am winterlichen Himmel standen und den sonntagabendlichen Heimweg aus der „Motette“ in der St.-Nikolai-Kirche überfunkelten, licht und hell sind und doch jeder ein Geheimnis, immer weiter hinausdeutend in das Unendliche — in Ewigkeit — —. Kurt Thomas' Passions-Musik ist keine Gefühlsmusik im Sinne des heute so bekämpften Romantizis­mus: sie ist vielmehr in ihrer gedanklichen Schärfe ein Dokument klarster Erkenntnis. Thomas weiß, was er will, aber gerade darum kann er, was er muß. Die innere Nötigung ist die geheime quellende Kraft in dieser Passionsmusik, eine Nötigung, die überstrahlt wird von jugendlichem Frohsein der Schöpferkraft. Wer dieses Werk hört inmitten des entseelten und experimentierenden Musikschaffens unserer Zeit, der kann aus seiner Sorge herauskommen und gläubig werden an das Zukünftige. Das ist die Mission, die diese Thomas-Mu­sik inmitten der modernen Musikklitterung erfüllt. Die menschliche Stimme ist das Instrument, dessen sich der Komponist bedient. Die menschliche Stimme ist immer noch das empfindlichste aller Instru­mente, denn sie überträgt nicht nur Seelenkraft, sie ist seelischer Ausdruck selber. Wohl der Stadt, die einen Chor hat, der unter chormeisterlicher Leitung solche Aufführungen wie diese Markus-Passion von Kurt Thomas bewältigt. Dicht zusammengedrängt um ihren Führer Prof. Stein, ein Bild geistiger Geschlossenheit und seelischer Verbundenheit, stand der Kieler A-cappella-Chor auf der Empore. Aus dem kostbaren Thomaswerk kam Zittern und Zagen, Weinen — o, welch bitteres Weinen!, das doch so lind verklingt in der Petrusseele, wenn der Komponist ihr die hoffende Tröstung seiner Harmonien schenkt — kam die große Generalpause der Welt, die den Atem anhält, als der Gekreuzigte nach „lautem Schrei“ verscheidet. . . Kurt Thomas (seltsam, wie der Zufall mit Worten beziehungsreich spielen kann) ist ein Jünger des großen Thomas-Kantors Johann Sebastian Bach; sein Werk widmet er dem Chor der Thomaner, und dann im weiten Kreise ringsum allen, die sich solcher Thomaskunst freuen und an ihr erquicken. Professor Hans Sonderburg.

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