Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 25.06.1929

Bachs „Matthäuspassion“
in der Nikolaikirche.

Die gesamten musikalischen Darbietungen dieser festlichen Tage erhoben sich zum Schluß noch einmal zu einem überragenden Höhe­punkte und gleichzeitig zu einem ungewöhnlich eindringlichen Erlebnis in der insgesamt glänzend gelungenen Aufführung der Bachschen Matthäuspassion in der St. Nikolaikirche durch das große Aufgebot eines imposanten Klangkörpers (Oratorienverein, A-cap­pella-Chor, Lehrergesangverein und das Städti­sche Orchester) unter Professor Steins künstlerisch hoch­stehender Leitung. In der Tat, eine würdige Aufgabe für eine große, künstlerisch höchsten Zielen nachstrebenden Körperschaft, wie den Kieler Oratorienverein, der auf sein erstes Jahrzehnt ernster und erfolgreicher künstlerischer Arbeit zurückblicken kann.

Hat doch Bach mit der Komposition seiner Matthäuspassion Hohes und Ungewöhnliches gewollt. Es zeigt das der Reichtum der verwen­deten klanglichen Mittel, die sich um den Kern zweier besonderer Chöre mit den dazugehörigen Soloquartetten, ja ihren besonderen Orchestern und Orgeln gruppieren sollen. Dazu treten der den cantus firmus tragende Kinderchor (ausgeführt von Schülern und Schülerinnen der 1. Mädchen- und 3. Knabenmittelschule unter Leitung von W. Bender) und vor allem die Solisten. Damit ist ein Rahmen geschaf­fen, der weit über die Bedürfnisse kirchlich-liturgischer Verwendung hinausgeht, und es ist schon recht, hier von einem gewaltigen Dome der musikalischen Kunst zu sprechen. Diesem Rahmen fügte sich auch die Gruppierung des großen Klangkörpers im wesentlichen ein. Dem Chor sind bedeutende Aufgaben zugewiesen. Es gilt für ihn, die Aus­drucks- und Bildkraft der dramatisch-realistischen Sätze, wie sie die großen Judenchöre enthalten, die, von höchster dramatischer Kraft erfüllt, in die Handlung eingreifen, anschaulich zum Ausdruck bringen; es gilt aber auch der Innerlichkeit der in lyrischer Ruhe dahinfließen­den betrachtenden Chorsätze und endlich den herrlichen Chorälen, in denen eigentlich die zuhörende Gemeinde das Wort hat, gerecht zu werden und auch sie wirkungsvoll in das Mysterium einzuziehen. Diese ungewöhnlich große und umfassende chorische Aufgabe wurde zur weit überwiegenden Hauptsache vortrefflich, ja glänzend gelöst. Es trifft das schon für die Darstellung des gewaltigen Eingangs-Doppelchors zu, der nach sich mächtig auftürmendem Orgelpunkt auf E-Moll in reicher klanglicher Ausgestaltung die dramatische Szene eines Wechselgesanges aufweist zwischen den „Töchtern Zions“ als erstem und den „Gläubigen“ als zweitem Chor, um endlich in stimmli­cher Verschmelzung beider Chöre breit und voll auszuklingen. Das „O Lamm Gottes“ des Kinderchors fügt sich mit dem cantus firmus klar her­vortretend ein.

Aber auch im weiteren Verlauf der Aufführung vermochte der Chor, sei er geteilt, sei er als Ganzes, seine Leistungen nicht selten zu überragenden Höhepunkten zu steigern. Es sei — um nur einiges herauszugreifen — erinnert an den gewaltsam losbrechenden und erschütternd in machtvoller Doppelchörigkeit sich steigernden Satz: „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“, an den gegen das zuversichtlich-gläubige Tenorsolo „Ich will bei meinem Jesu wachen“ sich leise klagend abhebenden Gesang des zweiten Chors „So schlafen uns're Sünden ein“, an die herrlichen Choräle, gekrönt von dem mit außerordentlich tiefgehender Wirkung vom A-cappella-Chor gesungenen phrygischen Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“, und endlich an den herrlichen Schlußchor „Wir setzen uns mit Tränen nieder.“

Aber auch an die Solisten werden in der Matthäuspassion höchste Anforderungen erhoben; nicht allein gesanglich-musikalisch, sondern vor allem an Tiefe und Innerlichkeit des Vortrags. Hier handelt es sich um ein Gestalten aus dem Geiste des Evangeliums heraus und im Sinne Bachs, dem letzten Endes die Töne nichts anderes sind als Gleichnisse, in die er das Uebersinnliche zu fassen sucht. Von diesem Gesichtspunkt aus beurteilt, müssen zuerst und vor allem der Meister­singer Karl Erb als kaum zu überbietender Vertreter der wunder­samen Partie des Evangelisten und Paul Lohmann als gesang­lich-musikalisch hochbedeutsamer tiefschürfender Gestalter der Chris­tuspartie genannt werden. Aber auch die Vetreterinnen der Frauen­partien zeigten sich den hohen Anforderungen an Musikalität und Vortrag ihrer Aufgaben in ausgezeichneter Weise gewachsen. Sowohl Anni Quistorps schlanker Sopran, wie Gustel Hammers pastoser Alt wurden Träger einer durch geistige Durchdringung und Verinnerlichung gekennzeichneten Nachschaffung der Arien und Rezitativen des herrlichen Werkes. In derselben Weise war auch das treffliche Städtische Orchester tätig, dem neben prächtiger, warmer Tongebung eine besonders schöne Abschattung des Klanges gelang, durch die es sich dem Chor durchaus ebenbürtig an die Seite stellte. In Solopartien zeichneten sich aus Konzertmeister Ernst Träger (Violine), Kammermusiker Ernst Kraft (Flöte), Richard Lauschmann und Max Wolter (Oboen). An der Orgel wirkte mit künstlerisch wohl disponierter eindrucksvoller Registrierungskunst Dr. Oskar Deffner, am Cembalo nicht minder erfolgreich Richard Liesche, Landeskirchenmusikdirektor aus Flensburg.

Willy Orthmann.

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Siehe auch Mß.

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