Philharmonischer Chor Kiel

Heider Anzeiger, 10.03.1930

Abschluß der 9. Universitätswoche

Festkonzert

Es war ein glücklicher Gedanke, die Universitätswoche mit dem letzten Abonnementskonzert des Vereins der Musikfreunde zu verbin­den und sie, die mit einem Festspiel begann, in einem Festkonzert ausklingen zu lassen. Herr Professor Dr. Fritz Stein war mit dem a capella-Chor des Kieler Oratorienvereins herbei­geeilt, um uns mit Werken von Brahms und Kurt Thomas zu beglüc­ken. Fritz Stein ist nicht nur ein guter Orchester-, sondern auch ein vorzüglicher Chordirigent, wie wir Sonnabend feststellen durften. Der Chor selbst verfügt über untadelige, teilweise sehr schöne, weiche Stimmen: auch weiß jeder einzelne Sänger künstlerische Disziplin zu halten und befleißigt sich einer korrekten und deutlichen Aussprache. Und es sei gleich bemerkt, daß Chor und Dirigent alles daransetzten, um das gewählte Programm in vollkommenster Form zum Erklingen zu bringen. Aber: mag es nun, besonders bei Thomas, an der Kleinheit des Chorkörpers oder der — wahrscheinlich durch sie bedingten — nicht gerade glücklichen Akustik gelegen haben: leider entsprach die Wirkung nicht derjenigen, die man sich erhofft hatte. So gefielen von den Brahmsschen Chören am besten die heiteren, wie das rheinische Volkslied vom bucklichten Fiedler, oder das „Fahr wohl“; auch die Goethische „Beherzigung“, in der in unübertrefflicher Weise das bäng­liche Schwanken, das weibische Zagen dem Kraftvollen, dem die Arme der Götter Herbeirufenden, gegenübergestellt werden.

„Die Passion nach dem Evangelisten Markus“ für gemischten Chor a capella op. 6 von Kurt Thomas, in welcher, wie schon der Titel sagt, im Gegensatz zu den bekannten Passionsmusiken lediglich ein ge­mischter Chor, ohne Solostimmen, Träger des musikalischen Ausdrucks ist, zeigt als Werk ein äußerst interessantes Gefüge. Trotz des schein­baren Gegensatzes, der in der manchmal archaisierenden, an die alte, noch vor-Bachische Chormusik erinnernden Stimmführung und der die letzten Möglichkeiten mehrerer Ausdrucksdissonanzen erschöpfenden Harmonik liegt, muß man dem Komponisten zubilligen, daß er es verstanden hat, dem Ganzen ein vollkommen geschlosse­nes Gepräge zu geben. Und darauf, daß es Thomas schon im ersten Werke gelang, seinen Eigenstil zu finden, werden wohl die rückhalt­lose Anerkennung und der große Erfolg beruhen, die dem jungen Komponisten in den letzten Jahren beschieden waren. Denn wie auf allen Gebieten, sind die „Persönlichkeiten“ auch auf dem Gebiete der Musik, betreffe es nun das Schaffen selbst oder die Interpretation, verhältnismäßig selten geworden.

Auf eine erschöpfende Darstellung der Wirkung des aufgeführten Werkes muß hier verzichtet werden: sie wird zum größten Teile davon abhängen, wie der Einzele zu der in ihm verwandten christlichen Idee steht, und ist hier nicht der Ort, um religiöse Gegensätze zwischen unseren Generationen aufzureißen. Was das rein Künstlerische anbe­trifft, so litten Interpretation und Wirkung naturgemäß an den Gren­zen, die dem kleinen Chor gezogen waren. Es versteht sich, daß erst ein großer Chor imstande sein wird, z. B. die Szenen vor Pilatus — man erinnere sich des Tumults um Barabas usw. — voll auszumalen: so waren es denn lediglich einige Szenen, man denke an die Abend­mahlsszene, an Gethsemane, wo Christus seine Jünger schlafend fand und besonders, wo Simon Petrus dann beim Hahnenschrei sei­nen Herrn verleugnet: „Und er hub an zu weinen“ —, die auch der kleine Klangkörper überzeugend und mit schöner Wirkung darzustel­len vermochte. Im großen Ganzen ist es dankbar anzuerkennen, daß jeder Sänger sein Bestes hergab, und daß es ein Verdiensst ist, wenn Prof. Dr. Stein versuchte, uns Thomas zu vermitteln: so fügt sich dieser Versuch den Bestrebungen der Universitätswoche, mit den Fortschritten der Wissenschaften bekannt zu machen, auch auf dem Gebiete der Musik aufs würdigste ein.

Eine wohltuende Unterbrechung der a capella-Musik war die von unserer einheimischen Pianistin Hermine Carstens gespielte „Kreisleriana“, ein durch E. T. A. Hoffmanns Selbstportrait, den „Kapellmeister Johannes Kreisler“ angeregtes, echt Schumannsches Klavierwerk, in dem in acht Phantasien schöne Melodik und weiches Empfinden gegen elementares Aufbrausen ausgespielt werden. Die Künstlerin verstand es, in vornehmer Weise die gegensätzlichen Stimmungen des schönen Werks auszuarbeiten und zu gestalten. Jedoch war ihr Spiel in tonlicher Hinsicht leider dadurch gehemmt, daß der Stainwy-Flügel (Magazin F. Koch[Kiel]) auf dem Transport etwas beschädigt worden war: der Flügelstab war gebrochen, und es war unmöglich, das Instrument ganz zu öffnen. Was das bei einem großen konzertflügel bedeutet, kann nur der ermessen, der selbst einmal versuchen mußte, bei so geschlossenem Instrument den Diskant gegenüber den dröhnenden Bässen zu behaupten. Daher wurde es denn allen nur mit den Sinnen genießenden Hörern etwas schwer gemacht, zu der geistigen Gestaltung in Beziehung zu gelangen und so die gebotene Leistung ihrem wirklichen Werte nach zu würdigen. Vielleicht stand auch der Flügel zu weit von uns entfernt: ich hätte ihn, bei verdunkeltem Saal, lieber auf dem der Bühne vorgebauten Podium gesehen.

Das Stadttheater war sehr gut besucht und das dankbare Publi­kum gab zu verstehen, daß es den hinter der Veranstaltung stehen­den Willen zur kulturellen, zur künstlerischen Gestaltung anerkannte und verstanden hatte. Dieser Wille aber ist in einer Zeit wie der heutigen fast noch wichtiger als die gewonnene Gestaltung selbst. Und daß er bei uns in Heide und in Dithmarschen noch lebendig ist, beweist das Dasein der Universitätswoche selbst, bewies der lebhaf­te Besuch der gebotenen Vorträge, und bewiesen auch Ausführende und Hörer in diesem, die Woche abschließenden Festkonzert noch einmal. W. K.


18. März 1930
Forstweg 14.

Herrn
Th. Biehl

Heide /Holst.

Sehr geehrter Herr Biehl!

Besten Dank für die freundl. Übersendung der Programme und Besprechungen. Ihre Frage wegen der Beset­zung des A-cappella-Chores bei anderen Aufführungen hängt wohl mit der Besprechung zusammen, und ich kann Ihnen gleich darauf antworten, daß in Heide nur etwa 4-5 Mitglieder gefehlt haben, und daß ich mit Absicht gerade diese schwächsten Kräfte nicht mitgenom­men habe. Wir haben bei den Aufführungen der Markus-Passion in den letzten Jahren nie in stärkerer Besetzung gesungen, im Gegen­teil, die besten Aufführungen waren immer die mit noch kleinerer Besetzung als in Heide und bei den erfolgreichsten Konzerten mit der Passion in Hamburg, Lübeck, Neumünster, Kiel etc. war der Chor nicht stärker als 40 Sänger; in dieser Besetzung werden wir auch in Kopen­hagen in der Karwoche auftreten. Der Heider Berichterstatter ging offenbar von ganz falschen Voraussetzungen aus und mit dem Wesen des A-cappella-Gesangs scheint er wenig vertraut zu sein. Er hat wahrscheinlich die Bach'schen Passionen mit großem Chor-Apparat gehört und da hat sich bei ihm die Vorstellung festgesetzt, zur Dar­stellung der dramatischen Partien der Passion gehöre unbedingt ein großer Chor. Das geht deutlich aus seiner Bemerkung hervor: "Es versteht sich, daß erst ein großer Chor imstande sein wird, z.B. die Szenen vor Pilatus - man erinnere sich des Tumultes um Barrabas usw. - voll auszumalen." Dass der Verfasser mit dem A-cappella-Chor wenig Bescheid weiss, beweist auch der Umstand, daß er mit keinem Wort auf die ungeheuren technischen Schwierigkeiten der Markus-Passion eingeht. Er hat offenbar gar nicht bemerkt, daß es sich bei der Tomas'schen Musik um das Schwerste handelt, was es überhaupt für A-cappella-Chor gibt, und er beurteilt die Leistung , als ob es sich um ein x-beliebiges Chorwerk handle, das jeder normale Chor bewäl­tigen könnte. Das Werk ist so irrsinnig schwer, daß ein großer Chor es überhaupt gar nicht ausführen kann, und so weit ich von Thomas selbst unterrichtet bin, hat sich bisher auch noch kein einziger grösserer Chor wegen der enormen Intonations-Schwierigkeiten an eine Aufführung der Passion gewagt. Ausser dem Berliner Dom-Chor und dem Thomaner-Chor, die beide auch nur höchstens 60 Sänger zählen, ist das Werk überhaupt nur von ganz wenigen kleinen leistungsfähigen A-cappella-Chören gemacht worden, und Liesche (Flensburg) lässt die Passion mit noch kleinerem Chor singen. Der ganzen Anlage nach ist das Werk auch gar nicht auf Massen-Wirkung eingestellt, sondern rechnet mehr auf kammermusikalische Wirkun­gen. Eine Beurteilung darf also nicht von vornherein den Maßstab der grossen Passions-Chöre anlegen, wie man sie von Bach her gewohnt ist. Es tut mit aufrichtig leid, daß der Heider Kritiker durch seine vor­eingenommene prinzipielle Einstellung Ihr Publikum hinterher zu einer mißverständlichen Beurteilung der Aufführung gebracht hat. Ich bin überzeugt, wenn er die Aufführung in der Kirche gehört hätte, so wäre er zu einem ganz anderen Urteil gekommen. Wir bedauern diese Kritik besonders auch deswegen, weil nicht nur ich, sondern auch der ganze Chor den Eindruck hatten, daß die Aufführung selten gut gelungen war. Wir haben die Passion in Heide absolut rein gesun­gen und den ungeheuer schwierigen fünften Teil in der Ausgangs-Tonart geschlossen, was selten vorkommt und was, wie ich von Thomas selbst hörte, sogar dem Thomaner-Chor nie gelungen ist. Der im übrigen ja sehr wohlwolllende Kritiker - wissen Sie, wer er ist? - hat also wohl doch nicht die richtige fachtechnische Einstellung zu dem Werk gehabt, aber das wollen wir ihm nicht weiter verübeln! Erwähnen möchte ich nur, daß von den ca. 20 Aufführungen, die wir bisher gemacht haben, diese Heider Besprechung die einzige ungünstige ist.

Ihnen, sehr geehrter Herr Biehl, danke ich noch vielmals für die freundliche Förderung des Unternehmens, und namens des Chors soll ich Ihnen noch besonders danken für die liebenswürdige und sorgfältige Bewirtung. Für den Chor war es eine große Strapaze; da das Auto nur langsam fahren konnte, kamen wir erst gegen 4 Uhr morgens hier in Kiel an.

Mit den besten Grüßen an Sie und Ihre verehrten Angehörigen bin ich

Ihr sehr ergebener

(gez Prof. Dr. Stein)

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