Kieler Zeitung, 05.12.1929
Drittes Symphonie-Konzert.
Auf den ersten Blick konnte die Vortragsfolge des gestrigen dritten Symphoniekonzertes etwas gewagt und willkürlich zusammengesetzt erscheinen. Hinterher brauchte man sich aber nur einen geistigen Trennungsstrich hinzudenken, nicht wo die Pause ihn vorsah, sondern vor den Händelschen Psalm: dann ergab sich eine wirksame Zweiteilung des Abends mit dem anregenden Gegensatz von neuer und alter Musik. Und es ergab sich noch etwas; daß nämlich R. Wagners Klangwelt, wie sie im Tristan oder den vier Wesendonkliedern lebt, das musikalische Quellengebiet noch für die „Neutöner“ unserer Zeit ist, mag es sich um einen Kämpfer und Führer wie Arnold Schönberg oder um einen gewandten Könner wie Paul Graener handeln. So fremdartig und unfaßlich Schönbergs Kammersinfonie Op. 9 erscheinen mag: niemand kann das unvermutete, klangsinnliche Aufblühen und Aufglühen von „Tristan-Gedanken“ überhören.
Freilich: als Ganzes betrachtet ist das Werk nicht mehr Wagnerisch, längst nicht mehr so sehr wie das als Op. 4 entstandene Sextett: „Verklärte Nacht“. Wir sehen den Komponisten bereits ein gutes Stück vorgeschritten auf dem Wege der Entromantisierung der Musik und der Auflösung bisher gültiger harmonischer und klanglicher Vorstellungen. Die „Kammersinfonie“ ist geschrieben „für 15 Soloinstrumente“. Wir sehen also auch hier das charakteristische Streben nach klanglicher Askese, nach Vermeidung von Massen- und Rauschwirkung. Immerhin bieten in der Hand des Meisters das Streichquintett mit den wichtigsten Holz- und Blechbläsern zusammen einen Klangkörper, der leuchten und farbig schillern kann. Was nach dieser Richtung in Erscheinung tritt, ist aber kaum mehr Absicht und Selbstzweck. Die Gestaltung erfolgt vorwiegend, ja ausschließlich vom Geistigen aus, von einem konzentrierten Willen zur Polyphonie zu abstrakter Linearität, die nichts mehr schildern und darstellen will; die aber um so intensiver die inneren Kräfte eines Themas in allen nur möglichen konstruktiven und zeitlichen Abwandlungen herausholen will. Da es sich dann meist um gleichzeitige Verwendung von mehreren Ton-Gedanken handelt, deren jeder wiederum in zwei verschiedenen Gestalten zugleich erklingt, so entsteht ein äußerst kunstvolles, aber nur schwer verfolgbares Töne-Geflecht, das bestenfalls die Gedankenarbeit des Hörers anregt, indessen kaum zum erwünschten Erlebnisbestand werden kann. Was beides um so mehr zutreffen wird, je radikaler sich ein Werk auch von dem lossagt, was u. E. mit dem Wesen der Musik naturnotwendig verbunden ist; Harmonie, Klang! Beides nun fehlt der Kammersinfonie, einem Frühwerk Schönbergs, noch nicht völlig. Es treten sogar zwei harmonische Prinzipe gestaltbildend hervor: Die Quartenfolge (Quart-Akkordik) und die Ganzton-Skala. Diese Neubildungen sind uns heute nahezu geläufig. (Daß Schönberg sie bereits 1906 schrieb, zeigt, wie er seiner Zeit vorauseilte.) Durchaus nicht fremdartig ist auch die formale Anlage: Das einsätzigee Werk läßt unschwer eine Gliederung in vier Teile erkennen, die etwa den Sätzen einer Sinfonie entsprechen. Daß nun durchgängig das gleiche Themen-Material verwendet wird, bewirkt zwa den Eindruck starker Geschlossenheit, aber auch — trotz erstaunlicher Satzkunst und Rhythmik — starker, um nicht zu sagen ermüdender Einförmigkeit.
Daß das Werk aufgeführt wurde, ist sehr zu begrüßen, schon wegen seiner entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung, die es nicht nur im Gesamtwerk Schönbergs, sondern auch allgemein beanspruchen darf als eines der ersten und als das wesentliche Beispiel des neu entstehenden „Kammerspiels“. Die Aufführung eines solch problematischen und komplizierten Werkes stellt außerordentliche Anforderungen an Leiter und Spieler, von denen jeder einzelne durchgehend als Solist sich betätigen muß. Es bedeutet daher für Prof. Dr. Fritz Stein, die Konzertmeister Träger, Winter, de Jager und unsere zwölf Kammermusiker die beste Anerkennung, wenn man festzustellen hat, daß die Aufführung thematisch klar, rhythmisch energisch und musikalisch geschlossen sich darbot.
Das andere Instrumentalwerk des Abends war das Konzert für Violoncello mit Kammerorchester Op. 78 von Paul Graener. Es ist dreisätzig. Zwischen den raschen Ecksätzen, die rhythmisch bewegliche Themen geschickt und sehr reizvoll behandeln, steht ein melodisch stark empfundenes, höchst dankbares Adagio. Die Musik ist durchweg ansprechend und eingänglich, und sie ist zudem, ohne alle Weitschweifigkeiten, in eine gute und elegante Form gegossen: also ein erfreuliches Werk, das kennen zu lernen sich durchaus lohnte, zumal es dem Städt. Konzertmeister John de Jager Gelegenheit gab, die gediegene Kunst seines Cellospiels solistisch zu zeigen. de Jager spielte mit sauber ausgearbeiteter, in allen Lagen zuverlässiger Technik. Der Ton des Instruments, an sich nicht sehr groß, trug gut und kam namentlich im Adagio zu gesangvollem Blühen. Der Künstler erntete sehr nachhaltigen, herzlichen Beifall.
Als Gesangs-Solistin wurde Henny Wolff, Sopran aus Berlin, bei ihrem Erscheinen auf dem Podium freudig begrüßt. Sie war für die erkrankte Mia Peltenburg eingetreten, auch für das vorgesehen gewesene Programm: R. Wagner; Wesendonk-Lieder und HändelPsalm 112. Henny Wolff hat sich in Kiel eine überzeugte und treue Gemeinde geschaffen durch ihre hervorragenden Kunstleistungen bei früheren Gelegenheiten. Sie war es auch gerade, die bei dem Händel-Fest im vorigen Jahr dem Psalm 112 zu einem wirklich sieghaften Erfolg verholfen hatte. Man war also berechtigt, auch gestern wieder Großes zu erwarten. Und in der Tat: für die leidenschaftlichen, stimmungstiefen Liedgedichte Wagners, bereits entstanden aus dem Glühen der Tristansehnsucht und -Qual, wurde Henny Wolff zur berufensten Interpretin. Ihr Vortrag ergriff nicht nur durch das klanglich große und ruhevolle Strömen der Stimme, sondern mehr noch durch die seelische Vertiefung des Ausdrucks, wobei auf dessen Verwandlungsfähigkeit vom Visionären der „Träume“ bis zum Lodern der „Schmerzen“ besoders hingewiesen sei.
Was diese eminent musikalische und technisch glänzend durchgebildete Künstlerin aber in schwierigstem virtuosen Kunstgesang zu leisten vermag, zeigte sie in Händels Psalm „Laudate Pueri Dominum“ (bearbeitet von Fritz Stein). Händel schrieb diesen Psalm in Italien unter dem starken Eindruck der farbenprächtigen, sinnen- und glaubensfreudigen katholischen Kirchenmusik jener Zeit. In unaufhaltsam feurig begeistertem Hinströmen umspielen sich die Chorstimmen und Instrumente; über allem aber schwebt und perlt, licht und glanzvoll, die Solosopran-Stimme. Es war einfach begeisternd, mit welcher musikalischen Sicherheit, welcher klanglichen Sauberkeit und überlegenen Beherrschung die Solistin diese Tonperlen-Ketten leuchten und glänzen ließ. Und was gab es dabei noch für dynamische und klangliche Feinheiten. Mühelos hob sich die Stimme über das Tutti von Instrumenten und Chor hinaus. Fritz Stein hatte mit dem Orchester und dem A cappella-Chor des Oratorienvereins den Psalm ausgezeichnet vorbereitet. So kam eine aus rechter Musizierfreudigkeit aller Beteiligten geborene innerlich und äußerlich beschwingte Aufführung heraus, die allen Mitwirkenden viel Beifall eintrug; eine Aufführung, die das Werk für Kiel aufs neue mit der Persönlichkeit und der großen Gesanges-Kunst Henny Wolffs verknüpft. Paul Becker.
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Siehe auch W. O.