Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 02.03.1932

Joseph-Haydn-Feier.

Zweites Sonderkonzert des Vereins der Musikfreunde.

Ein Haydn-Jubiläumsprogramm ohne eines der großen Oratorien wäre halbe Sache, und so hat unser Kieler Oratorienverein, nachdem er in früheren Jahren verschiedentlich die „Jahreszeiten“ zu Gehör gebracht hat, diesmal das ältere Werk, die „Schöpfung“ gewählt. Freilich gibt es ein noch älteres Geschwisterstück „Die Rückkehr des Tobias“, dieses aber ist noch so sehr in den Stileigentümlichkeiten der Hasse-Graun-Periode befangen, daß eine Aufführung nicht mehr lohnen würde. Aber hochinteressant ist es, von diesem Frühwerke aus die „Schöpfung“ zu messen und den ungeheu­ren Weg schätzen zu lernen, den Haydn zurückgelegt hat. Kein Vorbild hat ihm helfen können, schneller zum Ziele zu gelangen. Das wundervolle Orchester der „Schöpfung“ mit seinem stimmungs­vollen Reichtum an Klangfarben, mit seiner Beweglichkeit und Spielfer­tigkeit, die ihm gestattet, die kühnsten Phantasiebilder aufzustellen, es ist erst die letzte Station einer mühevollen, nicht geradlinig verlau­fenden Schaffensbahn. Die Chortechnik, schon früh in Messen und einzelnen Kirchenstücken geübt und beileibe nicht ungeschickt ge­handhabt, gewinnt erst ihre Vollendung nach den englischen Reisen. Wer hier von einer Nachahmung Händels redet, kennt weder diesen noch Haydn. Es ist der akustische Eindruck der englischen Aufführun­gen, der Haydns Phantasie angeregt hat — was die beiden Großmei­ster von einander trennt, ist einfach ihre verschiedene Stellung zur Frage des Stilisierens. Sie ist es auch, die gestaltend in die Architektur der Sologesänge eingreift. Auch hier übernimmt Haydn von Händel die große Form, aber nur, um sie bändigend zu verwenden für seine unaufhörlich gestaltende, selbst das Kleinste und Geringste mit gleicher Liebe umfassende Phantasie. Daher ist es gar nicht weiter verwunderlich, wenn der Erfolg der „Schöpfung“ sich zunächst im Norden nicht einstellen wollte. Man war viel zu schwerfällig, um die Fülle der Gefühle sofort zu überschauen, man verstand den Humor nicht, die Naturnähe des Meisters wirkte nicht erfrischend, sondern peinlich. „Man tadelte seine Art, weil sie den bitteren Ernst seiner Vorgänger gleichsam travestierte“, schreibt Zelter an Goethe.

Erst als eintrat, was Haydn als Summe auch dieser Tätigkeit sich gewünscht hatte: als die Gewalt seiner Musik unterschiedslos Gelehrt und Ungelehrt, Reich und Arm zu gemeinsamer Ausübung unter den Stab eines einzigen Dirigentenwillens zwang; da war das Los dieser Werke entschieden. Bis auf den heutigen Tag sind sie die meistaufge­führten Oratorien und tragen die Form und alles Spätere, was in ihr geschaffen worden ist, in alle Zeit weiter.

Leider war die Aufführung nicht in allen Teilen gleichwertig. Der Dirigent, Prof. Stein, nahm, im Widerspruch zu Haydns Forderung, häufig zu schnelle Zeitmaße. So konnte sich die besinnliche Idyllik der Sologesänge gegen den Sturm von außen nicht behaupten. Erschwe­rend kam hinzu, daß die beiden männlichen Solisten Hartwig Kemper (Tenor) und Paul Lohmann (Baß) alles andere als Vertreter gerade dieser Partien sind. Wenn eine Stelle, wie „Du wen­dest ab dein Angesicht“ so im Ausdruck vergriffen wird, wie dies am gestrigen Montagabend geschah, wenn Ensemblestellen durch Inter­vallfehler mißlingen, wenn derartige Schnitzer selbst in den Rezitati­ven unterlaufen, wenn der Tenorist keine Tenorstimme hat, so kann man nicht von einer Festaufführung sprechen. Da war es ein Glück, daß Adelheid Armhold die Sopranpartie sang, eine der schönsten und gepflegtesten Stimmen, die augenblicklich im Konzert zu hören sind. Ihre Wiedergabe hatte nicht nur Qualität, sondern auch Tradition, man merkte, daß sie sich bewußt war, ein Sängererbe zu verwalten und weiterzugeben. Wie schön wäre es gewesen, hätte sie in aller Ruhe und Freiheit musizieren können . . . .

Die prachtvollen Chorsätze kamen sehr frisch und klangschön heraus, man spürte das sorgsame Studium des Leiters und die Begeisterung der Singenden für ihre schöne Aufgabe. Das gleiche gilt von dem Spiel des Orchesters. Allerdings vermißte man hier und da die letzte Feile. („Von dir, o Gott“ z. B.) Die Rezitative begleitete Dr. Deffner auf der Orgel, leider oft zu leise, so daß er vielleicht, ohne es zu wollen, mitschuldig wurde an den Intonationsschwankungen des Bassisten.

Eine große Gemeinde hatte sich in der Nikolaikirche eingefunden, um dem unsterblichen Meister zu huldigen. Dr. Engelke.

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Siehe auch Paul Becker.

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