Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 09.12.1931

Drittes Symphoniekonzert

Es ist ein unvergängliches Verdienst der deutschen Romantik, daß sie in schwerer Notzeit die alte Tradition volkstümlichen Chorgesangs wieder aufnahm und durch bewußte, planvolle Erziehungsarbeit eine Hochblüte musikalischer Gemeinschaftskultur heraufführte. Die Jugendbewegung versucht zwar, die Musik des 19. Jahrhunderts als minderwertig hinzustellen: aber man braucht nur den Erfolg des gestrigen Konzerts erlebt zu haben, um die Haltlosigkeit solcher Prinzipienreiterei auch dem gutgläubigsten Laien vor Augen zu führen. Schließlich entscheidet doch in der Kunst nicht die Gesinnung, sondern das Maß des Könnens und die Kraft der Phantasie; wo aber wären in der von der Jugendbewegung empfohlenen Literatur Werke zu finden, wie jene, die gestern abend dazu dienten, das Gedächtnis unserer Gefallenen zu ehren?

Da ist zunächst Max Regers „Requiem“, auf jene wundervol­len Hebbelschen Strophen, die schon einmal Peter Cornelius zu einer seiner herrlichsten Kompositionen begeisterten. Es ist hier nicht der Ort, die beiden Arbeiten gegen einander abzuwägen — soviel aber ist sicher, daß von dem Werke Regers eine Kraft der Stimmung ausgeht, die es unmittelbar in die Nähe der großen Nänien eines Bach, Mozart, Cherubini und Brahms rückt. Regers Stil hat viele Wandlungen durchgemacht, je nach den Ein­flüssen, denen der Niezufriedene gerade unterlag. Was aber die Tonwerke seiner letzten Lebensjahre besonders liebenswert macht, ist das ehrliche Streben nach Klarheit und Einfachheit. Das Orchester wird, bei allem Reichtum der Register, stets durchsichtig und dem poetischen Vorwurf angemessen verwendet, und besonders hier — mit dem Klange des gleich virtuos behandelten Chores vereint — ergeben sich Klangbilder von seraphischer Schönheit. Ueber allem schwebt der unvergessene Jugendeindruck Brahmsscher Musik, ohne den letzten Endes die Regersche Kunst nicht zu dem geworden wäre, was sie geworden ist. Aber man soll nicht immer auf Aehnliches oder Uebereinstimmendes hinweisen: man zeige lieber einmal auf die Stellen, wo der jüngere Meister zu Neuem und Eigenem durchgerun­gen hat, wo er den ihm im Innersten femden Geist Hebbels über­wältigt und in seiner Zunge zu reden zwingt. Wer da nicht im Tiefsten erschüttert sich abwendet, um seine Fassung zu bewahren, der ist unfähig, die Sprache der Musik überhaupt zu vernehmen.

Und von ähnlicher Wirkung ist die Vertonung von Hölderlins herrlichem Hymnus „An die Hoffnung“. Hier ist Regers Sprache von wunderbarer Zartheit. Gleich der an Liszts „Orpheus“ erinnernde Anfang mit dem frappant getroffenen Ausdruck des Tastens und Suchens gehört zu seinen schönsten Eingebungen. Nur an einer Stelle überwindet einmal der Musikant den Poeten: als (Strophen 3/4) die leidige Vorliebe für die chromatische Tonleiter in zwingt, „zu tun, was die Noten wollen“ (wie einst Luther sagte). Doch zum Glück geht diese schwächere Episode bald vorüber.

Von Regers Werken zu Brahms bereits klassischer „Altrhapso­die“ ist nur ein Schritt — erheblich schwerer aber wird es dem Hörer, sich unmittelbar in die Dämonie des WolfschenFeuerrei­ters“ hineinzuversetzen, zumal das Stück von sinnverwirrender Kürze ist. Wolf arbeitet mit anderen musikalischen Symbolen als die genannten Meister. Mit der Komposition des „Feuerreiters“ — der Entstehungszeit nach die vorletzte seines Mörikebandes — war der Dramatiker in ihm erwacht. Daher die spätere Umarbeitung und Orchestrierung des Sololiedes in die gestern aufgeführte Form, eine kompositorische Leistung von unerhörter Genialität.

Alle diese charakteristischen Stücke wurden von den unter Prof. Steins Leitung vereinigten Chören (Oratorienverein und Lehrer­gesangverein) in wirksamster Weise herausgebracht. An Tonschön­heit und Präzision erschien oft das Letzte erreicht. Die Soli sang Emmi Leisner so schön und empfindungsvoll, wie man je der­artige Partien von ihr hat singen hören. Mit feinstem Stilgefühl wurde sie der Eigenart der in sich so verschiedenartigen Stücke gerecht, überall geleitet und gestützt von ihrer staunenswerten Musikalität, für die Probleme überhaupt nicht zu existieren scheinen.

Eine charaktervolle Aufführung von Brahms' großartigster Sympho­nie, der IV. in E-Moll, beschloß das inhaltreiche Konzert.

Eine ungewöhnlich zahlreiche Zuhörerschaft wohnte dem Konzert bei und feierte mit Recht Solistin und Dirigenten in auszeichnendster Weise. Während die Sängerin sich mit einer Zugabe — der Berliner Einlage in Händels „Israel“ — bedankte, konnte Prof. Stein nur schweigend die reiche Anerkennung entgegennehmen. Unser Orchester hatte wieder einmal einen großen Tag. Wenn bei der Sinfonie klanglich nicht alles nach Wunsch geriet, so war daran die ungünstige Aufstellung schuld. Bei ähnlichen Gelegenheiten müßten die Holzbläser auf einem Extrapodium untergebracht werden, damit der numerisch weit überlegene Streichkörper sie nicht erdrücken kann. E.

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Siehe auch Paul Becker.

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