Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Zeitung, 19.12.1932

Oratorienverein: Weihnachtsmotette

Prof. Dr. Fr. Stein und der A-cappella-Chor des Oratorienvereins bereiteten am gestrigen letzten Adventssonntag ihrem getreuen Publikum einen sehr schönen und stimmungsvollen Abend in der St. Nikolai-Kirche: Weihnachts-Motette! Die ganze Vortragsfolge war abgestimmt auf die frohe Erwartung der Vorweihnachtstage. Einen sehr geeigneten Introitus vermittelte Fritz Stein selbst an der Orgel durch den kraftvoll registrierten Orgelchoral „Vom Himmel hoch da komm ich her“ von J. S. Bach. Sehr interessant war es, hiernach gleich eine andere Bearbeitung des gleichen Chorals von Bach zu hören, nämlich als Vokalsatz aus „Drei Chorsätze zum Magnificat“. Zu dem cantus firmus des Soprans bewegen sich die übrigen Stimmen in kunstvoller Polyphonie, jedoch immer nur in Melodieteilen des Cho­rals. Hierauf folgten das unvergängliche Weihnachtslied „Es ist ein Reis entsprungen“ in dem alten Satz von M. Prätorius (1571—1621) und die innige Melodie aus dem Kölner Gesangbuch (1623) „Kindel­wiegen“ in einem ausgezeichnet klingenden Satz von A. v. Othegra­ven. Alles dies waren oft und gern gehörte Sachen. Man freute sich um so mehr ihnen zu begegnen, wenn sie in so kunstvoller Bearbei­tung und in einer künstlerisch und gesanglich so vorzüglichen Ausfüh­rung dargeboten werden.

Ebensogern nahm man einen 8stimmigen Chorsatz „Weihnachts­freude“ entgegen von Joh. Eccard (1553—1621). Trotz seines macht­voll sich ausbreitenden Chorklangs — bei der geringen Kopfzahl des A-cappella-Chors eine überraschend schöne Leistung — kann man an solcher vor-Bachschen Musik ermessen, wie sehr der große Johann Sebastian selbst die geistliche Musik ausdrucksmäßig, harmonisch und satztechnisch vertieft und erweitert hat.

Das Hauptstück des Abends war schließlich das „Weihnachts­oratorium“ nach den Worten des Evangelisten, für 6stimmigen Chor a-cappella Op. 17 von Kurt Thomas. Die vielen, anhängli­chen und überzeugten Kieler Freunde der Thomasschen Kunst wer­den diesem „wundervollen“ Werke mit derselben Hingegebenheit und Ergriffenheit gelauscht haben, wie bei früheren Gelegenheiten. Es ist wirklich erstaunlich, wie der jugendliche Komponist die Grundstim­mung der Textunterlagen im ganzen musikalisch durchdrungen hat und wie er im einzelnen mit einfachsten Mitteln „Klangbilder“ von schärfster und suggestivster Plastik geschaffen hat, wovon nur beispielsweise herausgegriffen seien: das schreitende Motiv der nach Bethlehem wandernden hl. Familie, der wandernde und dann still­ste­hende Stern und das Schluß-Amen auf kontrapunktische Verwendung von alten Weihnachts-Choräle, bei ihrem „strengen Satz“, kann man die Textabschnitte eingefügt sind. Und nicht zuletzt bei der figurativen Behandlung und Abwandlung dieser Coräle, bei ihrem „steinigen Satz“, kann man die Einfindungs- und Gestaltungskraft des Komponi­sten bewundern. Sie ist wiederum die Voraussetzung dafür, daß der frei und ungebunden waltenden Phantasie in den anderen Teilen des Werkes diese unmittelbare Bildhaftigkeit gelingt. Aus einem ganz besonderen Grund kann man bei dem A-cappella-Stil Kurt Thomas‘ von einer sog. „Tonsprache“ reden. Denn ihr wesentlichstes rhyth­misches Merkmal ist, daß sie mit erstaunlicher Geschmeidigkeit der inneren Bewegung der Sprache folgt. Mag die Notierung, der dauern­de Taktwechsel, das Notenbild noch so kompliziert sich ansehen , es klingt alles fließend und durchaus natürlich.

Ein weiteres, sehr persönliches und sehr wichtiges Element der Thomasschen A-cappella-Musik ist ihre hervorragende, oft geradezu berauschende Chorklangwirkung. Hierdurch ergibt sich die Ueberleitung auf die gestrige Aufführung.

Fritz Stein und sein A-cappella-Chor haben erneut bewiesen, daß sie auch schwierigste Aufgaben meistern können, daß sie besonders in den Thomasschen Stil sich ausgezeichnet eingefühlt haben. Das eigentümlich Schwebende, das rhythmisch bewegliche und die dyna­mische und klangliche Vielfältigkeit kamen aufs schönste zur Wirkung (abgesehen von einigen Schärfen im 1. Sopran, die wir bereitwilligst auf Indisposition zurückführen). So konnte man den Weihnachtsbe­richt der Evangelisten von der Verkündigung bis zur Darbietung im Tempel — dies ist der Inhalt und Umkreis des Weihnachts-Oratoriums — in eindrucksvollster Weise musikalisch wieder- und neuerleben.

Paul Becker.

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Siehe auch M—s.

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