Philharmonischer Chor Kiel

Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, 25.10.1932

Deutsche Chorlieder des 16. und 17. Jahrhundert.

Vortrag in der „Harmonie“ am 23. Oktober.

Jede Zeit hat ihr Volkslied, das über alle Unterschiede des Standes und Besitzes hinweg verbreitet, die Menschen zu einer geschlosse­nen Gemeinschaft verbindet. Volkslied ist Gemeindichtung ebenso wie der gotische Stil, das Barock, das Rokoko und das Biedermeier eine Gemeinkunst sind. Und weiter: Jede Zeit hat das Volkslied, das sie verdient, auch unsere. „Volkslied“ ist ja im Grunde nichts anderes als eben das Lied des Volkes, und wir hören das Volk überall und mit geradezu erschütternder Ausdauer singen: „Ich küsse Ihre Hand, Madame!“ und „Das ist die Liebe der Matrosen“. Dennoch empfinden wir all diese Erzeugnisse unserer Zeit nicht als Volkslieder; wie Pilze schießen sie aus der Erde, werden eine kurze Zeit von allen Kreisen aufgenommen, ermangeln aber eines höheren dichterischen und musikalischen Wertes und verschwinden ebenso schnell, wie sie aufgetaucht sind: Schlager von gestern, Schlager von vorgestern! Es gibt heute eigentlich nur sehr wenig Lieder, die langsam zum Volkslied werden, z. B. das innig schöne Wiegenlied „Guten Abend, gut‘ Nacht“. Kein Mensch kennt den Dichter, Brahms hat den Reim vor fünfzig Jahren vertont, und heute findet man das Lied in Kinderliederbüchern ohne Namensnennung des Komponisten. Unsere Zeit ist arm an Volksliedern. Umsomehr gilt es, das überlieferte Gut zu wahren!

Es ist darum auch ein besonderes Verdienst der Rendsburger Orts­gruppe der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft, Herrn Prof. Dr. Fritz Stein als berufenen Wissenschaftler und Künstler für einen Vortrag über das deutsche Chorlied des 16. und 17. Jahrhun­derts gewonnen zu haben. In seiner bekannt liebenswürdigen, gemeinverständlichen und die Hörer nie ermüdenden Art ging der Redner von der historischen Entwicklung der Mehrstimmigkeit aus und kam dann auf die charakteristischen Vertreter der Blütezeit des deut­schen Chorliedes zu sprechen. Wir sehen all diese Lieder aus einer gewissen historischen Interessiertheit heraus; und empfinden es schmerzlich, daß es einmal eine Zeit gab, wo sie Bestandteile des Lebens waren. Es spiegelt sich in ihnen die deutsche Vergangenheit in voller Deutlichkeit und Wirklichkeit wider, mögen sie singen von Liebe, Lust und Leid, von Sehnsucht, Werbung und Trennung, von der feisten Martinsgans, vom bösen Weib zu Haus, ja sogar vom Straßen­händler, der ein unfehlbares Mittel gegen die Plage von Ratten und Mäusen anpreist.

Sehr anschaulich — oder richtiger: anhörlich — wurde der Vortrag unterstützt durch die vielen Darbietungen des A-cappella-Chores vom Kieler Oratorienverein, die in diesem Rahmen nicht als Konzertleistungen bewertet und kritisiert werden sollen. Abgesehen von ganz wenigen nur noch historisch wertvollen Stückensind die meisten dieser alten Chorlieder auch heute noch von einer oft herben, aber unerhörten, unüberbietbaren Schönheit. Man muß sie freilich heraussingen und -klingen hören, wie Prof. Stein sie herauszuspinnen vermag. Die Chorleistungen zeichneten sich durchweg durch eine schöne Rundung und Schmiegsamkeit des Gesamtchorklanges aus. Unübertrefflich war das Hewrausarbeiten des grotesk Komischen in den heiteren Scherzliedern. — Herzlicher Beifll wurde Herrn Stein und seinen Sängern zuteil.

Zu bedauern ist nur, daß die Universitätsgesellschaft sich nit doch entschließen konnte, den Eintrittspreis etwas geringer anzusetzen; dann hätten noch über hundert Musikfreunde mehr einen genußreichen Abend erlebt. Werner Sprung.

Vortragsfolge

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