Philharmonischer Chor Kiel

Schleswiger Nachrichten, 26.02.1934

Musikalische Gedächtnisfeier im Dom

Inmitten der kirchlichen Feiern am Morgen, der Saalfeiern am Abend des Volkstrauertages stand am Nachmittage gleichsam als Bekrönung desselben eine auserlesene Weihestunde im Dom. Umso bedauerlicher war es, daß bei der Fülle der Trauerfeiern nur eine begrenzte Zahl von Hörern das Glück hatte, diese Stunde mit zu erleben. Es war, im Zusammenhange mit dem jüngst verflossenen Brahmsjahre, eine Brahmsfeier, wie man sie sich schöner in ihrer Art nicht denken konnte. Vier Motetten von Brahms — denn auch die „Fest- und Gedenksprüche“ op. 109 zählen zu letzteren — gelangten zur Aufführung, die dem Ernst des Tages wunderbar entgegenkamen. „Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben“, das ist der Gedanken­gang der drei ersten Motetten, denen sich die letzte anreiht mit „Un­sere Väter hofften auf dich und da sie hofften, halfst du ihnen aus“. In allen diesen Werken zeigt sich Brahms als unbedingten Meister der auf das reichste entwickelten Satzform. Er greift zurück auf Bach, Schütz und ihre Zeitgenossen und Vorgänger. Von 4 bis zu 8 Stimmen entfaltet er reichste Lebendigkeit der Stimmführung, die bald kanon­artig, bald imitierend sich auf einander aufbauen, sich ineinander verschlingen zu kunstvollsten Klanggebilden von strahlender Klang­kraft, von knapper Herbigkeit, von zartester Weichheit. Trotz der Strenge des Satzes spricht Brahms in der Fülle seiner Persönlichkeit aus jeder dieser Motetten. Trotz der oft vielfältigen Bewegtheit des Satzes, seiner sich türmenden Stimmenfülle, gelangt die Ausdruckskrft dieser Werke zu ihrem vollen Rechte und übt erschütternde Wirkun­gen aus. In der ersten Motette op. 79 „Warum ist das Licht gegeben“, gleich diese immer wiederkehrende Frage des „Warum“? Und dann der herrliche Aufstieg im 2. Teil „Lasset uns unser Herz samt den Händen aufheben zu Gott im Himmel“. Oder „Der Herr ist barmherzig“ in seinen überwältigenden Harmonien. Schlicht, tief ergreifend die kleine Motette „Ach, arme Welt, du trügest mich“ in der herben Knappheit des Chorsatzes, der poetisch zart ausklingt „Deß hilf mir, Herr, zum Frieden“. Und von unbeschreiblich erlösender Feierlichkeit das „Ruhn sie“ aus Rückerts „Nachtwache“ mit dem wundervollen Schluß „hülle in Frieden dich ein“. Von festlicher Klangfülle sind dage­gen die „Fest- und Gedenksprüche“ op. 109, die Brahms seiner Vater­stadt widmete zum Dank für die Ehrenbürgenurkunde. In 8stimmigem Doppelchor breiten sie sich in starker Bewegung aus, steigen im 2. Teil in gewaltigen Rhythmen einher und klingen ruhevoll mahnend aus zu ihrem fabelhaft aufsteigenden „Amen“.

In diesen Werken führte Landeskirchenmusikdirektor Erwin Zillinger den städtischen A-capella-Chor-Kiel, dessen Leitung er seit dem Sommer in Händen hat, zum ersten Mal in Schleswig vor. Reich und voll ist der Stimmklang des Chores, von strahlender Rein­heit die Intonation, von fabelhafter Sicherheit die Linienführung. Da war die oft geschmähte Akustik unseres Domes zur Legende gewor­den. In lichter Klarheit war jede Bewegung der einzelnen Stimmen zu hören. In erstaunlicher Willigkeit und Verständnisinnigkeit folgt der Chor seinem Führer von zartesten, innigsten Ausdruckswerten bis zu stärkster Bewegung, bis zu leidenschaftlichem, machtvollen Aufstieg. Da wird wirklich Letztes herausgebracht, da wird in Tiefen geschürft, mit Liebe gefeilt. Zilllinger zeigte sich als Meister der Chorführung, der bei aller Sorgfalt der Einzelwirkung doch kraftvoll und sinngemäß zusammen faßt, aufbaut und durchleuchtet.

Diesen wunderbaren Chorwerken dienten als Umrahmung Orgelvorträge, in denen Zillinger eine geschlossene Vollendung zeigte. Von feinsinnigster Stimmführung getragen schwebte Brahms Choralvorspiel „O Welt, ich muß dich lassen“ in seiner knappen Eigen­art in lichtester Klarheit seines köstlichen Farbenspieles durch die wei­ten Hallen des Domes. Daneben erschütterten Max Regers gewaltige „Introduktion und Passacaglia“ D-moll und desselben „Fantasie über b—a—c—h“ in der machtvollen Fülle ihres kunstvoll und doch klar gefügten Aufbaues, den Zillinger mit fester Hand machtvoll gestaltete.

Die „Musikalische Gedächtnisfeier“ des Volkstrauertages wird allen denen, die sie hörten, in unvergeßlicher dankbarer Erinnerung bleiben. G.

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