Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 28.03.1934

Bachs Matthäus-Passion in der Nikolaikirche.

Alljährlich, wenn der Frühling sich anschickt zu neuem Lebenswir­ken, dann erheben dröhnend die Glocken der Passion ihre Stimme und rufen die Menschheit zusammen zum Gedächtnis dessen, der am Kreuze auf Golgatha sein Leben lassen mußte. Solange die christliche Kirche besteht, ist das feststehender Brauch, dem sich kein Gläubiger entziehen mag. Und wie der Prediger in immer neuen Worten und Bildern der Gemeinde den Sinn des grausamen Geschehens deuten mußte, so mußte auch der, der nach Luthers schönem Wort der Theologie am nächsten stand, der Tondichter, immer neue Töne und Weisen erfinden, aus denen der Geist der Feier gesammelt wider­klang. Und so zieht sich durch die Jahrhunderte eine unübersehbare Kette von Passionsmusik. Musik des einzelnen, Musik der Gemein­schaft, Musik der Versenkung, Musik des Schauens. Und über all dem Herrlichen, was geschaffen wird und geschaffen wurde, erhebt sich seit mehr als hundert Jahren, ragend wie das Kreuz selbst, die Matthäus-Passion Sebastian Bachs. Kein Werk unserer Musik ist so sehr Gemeingut aller Deutschen geworden wie dieses. In den Tagen der Schulzeit schon stellen Knaben den chorus mysticus des Werks und singen die Choralweisen, die zu Anfang und Ende des ersten Teiles sich sieghaft über all den anderen Stimmen erheben. Damit werden sie von selber hineingezogen in die unergründlichen Geheim­nisse des Werkes, wachsen in die feiernde Gemeinde hinein und werden nach ein paar Jahren deren vollbürtige Glieder werden und weiterwachsen in den Kreis der Wenigen hinein, denen Bach das Einzelwort zugeteilt hat. Aber auch die Hörerschaft der Matthäus-Passion ist eine andere, als sie sich sonst im Gotteshause zusammen­findet. Sie weiß um die letzten Dinge dessen, was zu ihnen sprechen will. Es ist eine religiöse Gemeinschaft, die, das Wort der heiligen Schrift im Herzen, die Strophen des Gesangbuches auf den Lippen, mithörend mitleidet. Hier geht es nicht um gut oder schlecht, um gelungen oder nicht gelungen, derartige Wertbegriffe gelten nicht in den Sphären, zu denen uns Bachs Genius emporträgt.

Die Aufführung war prachtvoll. Der Leiter, Kapellmeister Gah­lenbeck, zeigte auch vor dieser Aufgabe, daß er ein ganzer Künst­ler ist. Ueber Kleinigkeiten könnte man rechten. Z. B. ob die dramati­sche Zuspitzung auch für die Eckpfeiler gelten solle. Aber was brächte das? Redete nicht auch so der Geist Bachs mit feurigen Zungen zu uns? Die Chöre klangen und sangen herrlich. Die Schlichtheit der Choralsätze wurde ebenso sicher getroffen wie die bunte Bewegtheit der Massenchöre.

Unter den Einzelsängern vertrat Annemarie Sottmann wie schon in früheren Aufführungen die Sopranpartie und bezauberte wieder durch ihre glockenreine Intonation, die das heikle Musizieren mit den mancherlei Soloinstrumenten zu einem vollendeten Genuß machte. Auch ihre ruhige gesammelte Ausdrucksweise fand den rech­ten Ton für die Wiedergabe gerade ihrer Partie. Die Altistin Doris Winkler aus Dresden ist hier noch unbekannt. Eine auffallend helle, bewegliche, mühelos ansprechende Stimme, ohne die oft so störende Schwerfälligkeit und Umständlichkeit der anderen. Auch diese Künstlerin fesselte vom ersten Takte an durch ihren warmen, verinnerlichten Vortrag. Selten wohl ist die berühmte H-Moll-Arie so schlackenrein und schlicht in unserer Kirche erklungen. Der Evangelist Robert Bröll ist ein anerkannter Meister seines Faches. Wenn auch die Stimme durch klangliche Reize nicht sonderlich besticht, so zeugt doch seine Art, die Rezitative wiederzugeben, von so viel geistiger Beweglichkeit und künstlerischem Feingefühl, daß man ihm gern einmal wieder begegnet, denn wie die ebenfalls sehr gelunge­nen Arien zeigten, dürfte er auch vor universelleren Aufgaben nicht versagen. Zu unserer Freude griffen auch zwei Mitglieder unseres Stadttheaters entscheidend in die Aufführung ein: Joseph Lex als Christus und Frodewin Illert als Vertreter der verschiede­nen kleineren Männerrollen. Auch hier erübrigt sich langes Reden. Dr. Illert kannten und schätzten wir bereits als Interpreten ähnlicher Musik. Erst vor solchen Aufgaben scheint sich seine Künstlerschaft voll entfalten zu wollen. Aber auch der Christus, den sein Kollege uns zeichnete, war eine edle, wirksam durchgeformte Leistung, die unsere volle Anerkennung verdient und auch sofort in ihrem Werte erkannt wurde.

Entscheidend für das Gelingen der Aufführung als Ganzes sind nicht allein die Träger des vokalen Teiles. Die letzte Vollendung geben die Instrumentisten, und von diesen wieder die Holzbläser, die auf seltenen, zum Teil ungemein schwierig zu handhabenden Instrumen­ten oft abenteuerliche, schwierige Spiel- und Ausdrucksprobleme zu lösen haben. Wir haben oft mit Stolz auf unser Orchester hingewie­sen. Künstler wie Josef Krafft und Richard Lauschmann genügen, den Ruf unserer Körperschaft überall draußen zu festigen. Vielleicht darf man hier einmal auf die Atemführung der beiden hinweisen. Es gibt nicht viele Bläser in Deutschland, die den Faden des Bachschen Melos so ununterbrochen weiterzuspinnen vermögen wie diese beiden. Es ist das besondere Geheimnis ihrer persönlichen Technik, und dieses Geheimnis trägt ihnen die Bewunderung aller ein, die zu uns kommen, um hier zu musizieren oder zu hören. Ihrer Er­ziehung, ihrem Vorbild verdanken wir das vollendete Zusammenspiel, wie es gestern wieder in den berühmten Duetten und Terzetten zutage trat. Dem „Erbarme dich“ der Altistin gab das warme, lebens­volle Violinspiel Ernst Trägers ebenfalls die rechte Weihe.

An Orgel und Klavier — so wichtig für das Ganze und so undankbar für den einzelnen Spieler — saßen Dr. Deffner und Kapellmeister Strasser. Beide gaben das, was Bach von ihnen verlangt: das Fundament des Satzes und die nie wankende Stütze für die mitwir­kenden Sänger.

Der neue städtische Chor hat die Feuerprobe in jeder Weise bestanden, und die ihm halfen, der Lehrergesangverein und Wilhelm Benders vereinigte Schulchöre, leisteten, wie gewohnt, nie versagende Unterstützung.

Eine große Menge von Andächtigen füllte die weiten Räume der Kirche und verließ erschüttert, aber innerlich erhoben, oder, wie Luther sagt, „voller Freudigkeit“ das Gotteshaus. Dr. Engelke.

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Siehe auch P. B.

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