Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 06.10.1938

Erstes Symphonie-Konzert

Ludwig v. Beethovens „Neunte“.

Das erste der diesjährigen Winterkonzerte unter Paul Belkers Leitung gestaltete sich zu einem glanzvollen Präludium der musikalischen Winterspielzeit überhaupt. Es begann mit Seb. Bachs Brandenburgischem Konzert für dreifach geteilte Streichergruppen (Nr. 3 G-dur). Das Werk — eines der großartigsten aus des Altmeisters Feder — gehört mit Recht zu den Grundwerken der lebendigen deut­schen Konzertliteratur. Ein unbändiger Lebensdrang hat es ans Licht getrieben. Aus einfachen, ja simplen Grundmotiven werden die beiden Sätze aufgebaut mit einer Bildnerkraft und Phantasiegewalt, die uner­schöpflich scheinen. Jede Aufführung enthüllt neue Schöheiten: Bringt man das Werk als Kammermusik, so werden seine zartsinnigen Par­tien den Hörer schmeichelnd umfangen, bringt man es à la Furtwäng­ler in übrigens unbachischer Massenbesetzung, so wird der heroisch-pathetische Zug der Musik alles andere überschatten. Wie dem auch sei — es übte in der straffen, energiegeladenen, dynamisch sparsa­men Wiedergabe eine hinreißende Gewalt aus und zwang den Hörer in die festlich-gehobene Stimmung hinein, die das äußere Geschehen dieser Tage selbst so gebieterisch erzeugte.

Die zweite Nummer des Programms — Baß-Arien von Händel — wurde aus naheliegenden Gründen zurückgenommen und statt dessen das Schlußfragment der „Meistersinger“ (leider ohne Chor!) eingetauscht. Der stimmgewaltige Rudolf Watzke sang es pracht­voll.

Und nun folgte das Hauptwerk: Beethovens „Neunte“. Belker zeigte sich hier als ein viele überragender Interpret des rätsel­vollen Werkes. Nicht, daß in allen Einzelheiten die Forderungen der Partitur erfüllt wurden (das Orchester spielte mit letzter Klarheit!), nein, daß das, was unsichtbar zwischen den Notenzeilen hin- und hergeht, das Sagbare wie das Unsagbare, klingende Gestalt gewann, war das Große und Unvergeßliche an diesem Abend. Belker identifi­ziert sich mit dem herben Klang der Instrumentation, ihn ohne den leisesten Versuch einer Beschönigung vor dem Hörer zu rechtfertigen, ist sein vornehmstes Ziel. Daß ihm sein Vorhaben gelang, dünkt uns nichts Geringes, denn unser Ohr ist heute an ein anderes Klangideal gewöhnt und nur zu willig geneigt, von diesem auch rückschauend zu fordern.

Die Darstellung des abseitigsten, des ersten Satzes war für uns Kieler vielleicht Belkers eigenwüchsigste und bisher stärkste Dirigen­tenleistung. Fugen- und mörtellos baute sich Quader um Quader der zyklopische Bau auf. Jede Einzelheit der Orchestration war genau auf die Klangwirkung hin vorausberechnet, so daß eine geradezu ideale Abstimmung herrschte zwischen den verschiedenfarbigen Registern. Die posenlose, unreflektierte Abwicklung ließ die wunderbare Auftei­lung in ruhiger Klarheit hervortreten. Die düstere, menschenverach­tende Grundstimmung der Musik legte sich wie ein Albtraum auf die eben noch so festlich gestimmte Versammlung. Kaum je hat die berühmte D-dur-Stelle des Hornes erlösender geklungen, kaum aber auch trostloser und erschütternder als das folgende, das sie Lügen straft . . .

Die gleiche Hochspannung hielt unvermindert auch für die übrigen drei Sätze vor. Das dämonische Scherzo wurde zu einem Prachtstück virtuoser Orchesterspielart, das Adagio zu einem Wunder holdseligen, weltabgewendeten Klingens — so tief einprägsam dem Hörer darge­boten, daß es wieder einmal als die Krone aller späteren, von ihm abhängigen Symphonie-Adagios erschien. Und schließlich der letzte: im instrumentalen Teil von einer nur selten erreichten Beredsamkeit (man entsinne sich der überaschenden, stark persönlich gefärbten Ausmalung der einzelnen Themengruppen vor dem Einsatz der Men­schenstimmen!), im vokalen von überwältigender Fülle und Mannig­faltigkeit im Dynamischen, getragen von jenem alles überrennenden, das Beethoven für seine Ausführung erträumt hat.

Die solistischen Partien hatte man zu gleichen Hälften unter eige­ne und fremde Sänger verteilt. Daß eine so naturhafte, füllige Stimme wie Rud. Watzkes Baß das Ensemble beherrschen würde, war von vornherein anzunehmen, zumal die Aufstellung der Einzelstimmen nicht besonders glücklich war. Der schöne, strahlende Sopran Tille Briens — seit der letzten Aufführung von Verdis Requiem bei uns geschätzt — , der weiche, dunkelleuchtende Alt Anny Andrassys wie auch der umsichtige Tenor unseres Peter Baxevanos formier­ten mit jenem ein schön klingendes, die Schwierigkeiten des Satzes klug meisterndes Quartett.

Der städtische Chor zeigte sich wieder in bester Form, er sang frisch und sicher und schwelgte in seinem eigenen Wohlklang.

Die bloße Ankündigung des Konzerts hatte so elektrisierend ge­wirkt, daß vor dem Ansturm auch die Seitenflügel des Saales geöffnet werden mußten. Außerdem war jeder sonst verfügbare Raum für Stehplätze bereitgestellt. Ein riesiger, ehrlich verdienter Erfolg für alle Mitwirkenden! Dr. Bernhard Engelke.

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