Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 08.12.1937

Verdis „Requiem“

Viertes Symphoniekonzert

Nach Kiel ist dank der großzügigen Kulturpolitik unseres Oberbür­germeisters allmählich ein Stamm von Künstlern gezogen, der uns gestattet, in Dingen der Musik eine gewisse Autarkie zu treiben. Wir haben Kapellmeister Paul Belker zweimal in der Oper gehört; wir haben ihn vorgestern als Chorleiter mit Verdis „Requiem“ erlebt. Kurz vorher haben Wührer, Seemann und Ritterhoff Leistungen gezeigt, die, weiß Gott, so leicht nicht überboten werden können. Wir haben im „Requiem“ zwei Solopartien mit eigenen Kräften besetzt (Thorkild Noval, Franz Stumpf), wir haben einen großen Chor, ein leistungsfähiges Operntheater mit z. T. starken Begabungen, ein ganz vorzügliches Orchester — darf man da nicht mit Stolz feststellen, daß ein Ziel erreicht ist und man sich des Erreichten nicht zu schämen braucht?

Eine Aufführung wie die des Verdischen „Requiem“ war eine mei­sterliche Tat aller Beteiligten. Eine herrliche Sopranstimme führte den Reigen der Solisten an (Tilla Briem). Sie gehörte einer starken Per­sönlichkeit von feinstem musikalischen Einfühlungsvermögen. Gleich beim ersten Kyrie-Einsatz wurde der Hörer von der reinen Schönheit dieser Stimme tief berührt, so wunderbar traf sie den Ausdruck dieser Stelle. Jedesmal, wenn sie wieder erschien, wiederholte und vertiefte sich dieser Eindruck, bis dann der letzte Satz mit seiner größeren Aufgabe der Künstlerin Gelegenheit gab, sich gleichsam in ganzer Figur zu zeigen.

Die Altpartie (die umfangreichste und anspruchsvollste des „Requi­ems“) sang Gusta Hammer, die seit ihrer früheren Kieler Tätig­keit mit Recht in den Rang einer vielbegehrten Altistin aufgerückt ist. Auch sie traf den Ausdruck der Musik erstaunlich echt, außerdem bot die ausgedehnte Partie ihr Gelegenheit genug, ihre schöne, gepflegte Stimme in allen Lagen und Tönungen zu zeigen.

Daß die Tenor- und Baßpartien (wie schon gesagt) zweien unserer besten Bühnensänger anvertraut wurden, war nur recht und billig. Wie prächtig traf Thorkild Noval den eigentümlich nervösen Ton mancher Stelle (z. B. des „in gemisco“), wie weich und edel klang das rührende „Qui Mariam absolvisti“, wie vollkommen ging die Stimme auf in den transparenten Klängen des Orchesters („Mihi quoque spem dedisti“). Und in gleich williger Weise kam auch das prachtvolle Organ Franz Stumpfs seiner Aufgabe entgegen. Wir möchten bezweifeln, daß wir die Stimme im Theater je in ihrer vollen Eigenart kennen lernen konnten. Man erinnere sich nur des „Confutatis“ und seiner Gegensätze „voca me“ und „gere curam“. Daß ferner ein guter Genius bei der Auswahl der Stimmen seine Hand im Spiel hatte, zeigte sich, sobald sie sich klingend vereinten. Ein so tonschönes, feingestimmtes Ensemble ist hier lange nicht bewundert worden.

Der Chor — vor dieser Aufführung mühsam aus heterogenen Teilen zusammengeschweißt — bewies eine staunenswerte Leistungsfähig­keit. Wenn auch der gestrenge Leiter gewiß nicht mit Proben gespart hat, — der Hauptfaktor ist in diesem Falle nicht der Lehrer, sondern der Lernende. Wo es am rechten Musiksinn hapert, wird es nimmer­mehr gelingen, ein so anspruchsvolles Werk schlackenlos herauszu­bringen! Schade, daß man die Aufführung nicht auf Schallplatten festgehalten hat; das „Requiem“, gewisse Teile des „Dies irae“ sowie das „Sanctus“ würde man sich gern, als Musterbeispiele chorischer Hoch­spannung, von Zeit zu Zeit wiederholen.

Daß bei einer so ungewöhnlich hochstehenden Wiedergabe unser Orchester ein gewichtig Wörtlein mitsprach, ist klar. Es hat an diesem Abend wieder einmal restlos die Ansprüche des übernommenen Meisterwerks erfüllt. Vorbildlich war seine Selbstdisziplin den Sin­genden gegenüber: nicht einen Takt lang wurde das Eigenrecht der anderen gekürzt.

Vor allem aber gebührt Dank und Bewunderung dem Leiter des Ganzen. Kapellmeister Belker ist der rechte Mittler dieser Musik. Wie jüngst beim „Othello“ verstand er auch bei diesem Werke des großen italienischen Meisters alle verborgenen Quellen aufzugraben und die strahlende Herrlichkeit der Partitur Wirklichkeit werden zu lassen. Seine ruhige, überlegene Führung zwang die Mitwirkenden zum Einsetzen auch der letzten Kraft. So erlebte man ein Wunder von Aufführung, für das auch das reichste Maß von Beifall als Ausdruck des Dankes zu gering ist.

Saal und Nebenraum waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Dr. Bernhard Engelke

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