Philharmonischer Chor Kiel

Kieler Neueste Nachrichten, 30.03.1939

Beethovens „Missa solemnis“

Zehntes Symphoniekonzert.

„In dem Monde meiner Wehmut

Alles Glanzes unbewußt

Muß ich singen, und in Demut

Vor den Schätzen meines Innern,

Vor der Armut meines Lebens,

Vor den Gipfeln meines Strebens,

Ewger Gott! mich Dein erinnern,

Alles andre ist vergebens . . .“

In diese wundervolle Strophe bannt Clemens Brentano den Geist, der Beethovens Frömmigkeit beseelte. Wohl war dieser „Atheist“, wie ihn der alte Haydn mißmutig nannte, kein dogmengläubiger Christ, von Kirchengemeinschaft hielt er nicht viel, er flüchtete lieber einsam hinaus in die Natur, denn dort nur fand er „Ruhe, ihm zu dienen“, und wer ihn über religiöse Dinge ausfragen wollte, den wies er barsch zurück mit den Worten, Religion und Generalbaß seien zwei abge­schlossene Dinge, über die man nicht zu disputieren hätte.

Es gibt eine Fülle von Aeußerungen Beethovens, die uns erkennen lassen, wie sehr ihm die Komposition von Kirchenmusik Herzenssache war. Mit seiner ersten Messe in C-dur suchte er bewußt sich über den kirchlichen Nationalismus der Zeitgenossen zu erheben, und der Miß­erfolg dieses Werkes traf ihn schwerer als irgend ein anderer. Ueber zehn Jahre hielt er ihn von jeder ähnlichen Arbeit ab, bis ein äußerer Anlaß, die Ernennung seines kaiserlichen Schülers Rudolph zum Erz­bischof von Olmütz, ihn dazu vermochte, seine Zurückhaltung aufzu­geben. In den Jahren 1818 bis 1823 beschäftigten ihn sogar drei Messepläne auf einmal. Zwar wurde nur einer ausgeführt, und auch dieser nur in langsamer, ängstlicher Arbeit, unterbrochen von widrigen Hemmungen des äußeren Lebens, und wurde erst fertig, nachdem die Inthronisation des Erzbischofs bereits drei Jahre zurücklag. Aber die lange Zeit, die der Meister notgedrungen auf die Komposition zu ver­wenden hatte, führte ihn zu einer bis dahin beispiellosen Vertiefung des Ausdrucks. So groß und herrlich die Leistungen eines Haydn und Mozart, auch eines Cherubini auf dem Felde der Messe waren: dieses Werk stellte einen Kanon auf, der bis heute unübertroffen ist.

Beethoven will mit seiner „Missa solemnis“ sich streng im Rahmen der heiligen Handlung halten, daher vermeidet er es, den traditio­nellen Text zu zerstückeln und weicht nicht nur in dem einen Punkte vom Ueblichen ab, daß er ein Zwischenspiel während der Wandlung einfügt. Das dreiteilige Kyrie beginnt in frommem demütigem Tone. Wir kennen ihn von der älteren Messe her, nur erscheint er in der zweiten wärmer noch und inniger. Instrumente, Chor und Solisten überbieten sich in herzlichen Weisen, und wenn die Anrufung Christi einsetzt, steigert sich der Ton fast ins Ekstatische (was äußerlich die Abschweifung in den Tonartenkomplex von h-moll ankündigt!). Nach diesem Zwischensatz in den Geist des Anfangs zurückzufinden, wurde Beethoven ersichtlich schwer: die Leidenschaft, die ihn erfaßt hatte, konnte er nicht mehr bändigen, und so ergeben sich ganz natürlich die vielbewunderten Steigerungen im dritten Abschnitt, die weit hinausgehen über das, was Beethoven in der C-dur-Messe wagte. „Von Herzen — möge es wieder — zu Herzen gehen“, schrieb er wieder in die Partitur hinein.

Der zweite Teil beginnt wirkungsvoll mit einer elementaren Tonlei­terfigur auf die Worte „Gloria in excelsis Deo“, die — ein genialer Einfall — auch zu anderen Wortgruppen wieder verwendet wird, wodurch die ruhigen Zwischensätze mächtig an Eindringlichkeit gewinnen. Diese Zwischensätze sind es, die auch dem Laienhörer sofort ans Herz greifen, das „Gratias“ mit seinem unbeschreiblich holdseligen Ausdruck und das in Trauer und Verzagtheit hingebettete „Qui tollis“. Den kolos­salen Ausklang dieses Satzes hat man gelegentlich mit dem Schlußteil der „Neunten“ verglichen; allein, um wie viel würdiger bleibt hier der Ton bis zum Ende!

Schon in der ersten Messe zeigte Beethoven, daß sein Glaubens­bekenntnis recht verschieden lautet von dem seiner komponierenden Kollegen. Wieder leitet eine nur kurze Figur den Satz ein — er hat sie nach Jahren noch einmal dem Kanon „Gott ist eine feste Burg“ angepaßt. Sie steht einem musikalischen Urmotiv nahe, das seit JosquinsStabat mater“ durch die Jahrhunderte fortklang. Ihre Ver­wendung innerhalb des Satzes ist überraschend genug und weicht von der Tradition ab, insofern als sie erst zu den Worten „et in spiritum“ wiederkehrt, welches Verfahren Beethoven dadurch zu rechtfertigen sucht, daß er jenes „et“ kurzerhand durch „credo“ ersetzt. Diesen Geniezug hat Schubert aufgegriffen und in seiner Es-dur-Messe noch stärker herausgearbeitet.

Dieser Teil enthält ebenfalls eine kaum zu überblickende Fülle von geistvollen, tiefempfundenen Einzelheiten. Wieder sind es die ruhigen Mittelstücke, das „Incarnatus“ und „Crucifixus“, in denen Beethoven das Höchste, was ihm zu sagen vergönnt war, niedergelegt hat. Auch diesmal krönt das Ganze eine Fuge, noch komplizierter als die vorige und noch schwieriger auszuführen.

Das nun folgende „Heilig“ teilt mit dem analogen Satze der C-dur- Messe die Abkehr von dem landläufigen Jubelton, es beginnt pianis­simo „mit Andacht“, um wie dort erst beim „Pleni“ die Schleusen des Jubels zu öffnen. Danach setzt das berühmte „Benedictus“ ein — die schönste Musik, die jemals ein sterblicher Meister zu dieser Stelle erdacht hat. Hoch über dem lastenden Orchester spinnt eine einsame Geige ihre Silberfäden. Nur zögernd gesellen sich die Menschenstim­men zu ihr, als wollten sie im Gefühl ihrer Ohnmacht gar nicht erst den Wettkampf mit der holden Himmelsstimme aufnehmen. Der Chor beschränkt sich auf das Nötigste.

Damit sind wir nun zu dem Satze gelangt, den Beethoven von Anfang an besonders bedeutungsvoll ausbauen wollte, dem „Agnus Dei“ mit der vielbessprochenen „Bitte um inneren und äußeren Frie­den“. Ergreifend klingt die Bitte um Erbarmen, rührend das Flehen um Frieden, zweimal schauerlich von einer wilden Kriegsmusik unterbro­chen. Beethoven geht sogar noch weiter in dem Streben nach Ein­dringlichkeit: er führt ein Thema aus Händels „Messias“ herauf, als könne er mit ihm nur jene grausige Vision bannen. Nicht der Chor hat das letzte Wort zu sprechen, sondern das Orchester. Als das Riesen­werk vollendet vor ihm lag, schrieb er nicht mit Unrecht, daß er es „für das gelungenste seiner Geistesprodukte halte“. Die Zeitgenossen allerdings glaubten ihm nicht. Erst seit 1870 mehrten sich die Auffüh­rungen, aber wie überall ist es auch in Kiel ein ganz besonderer Fest­tag, wenn die „Missa solemnis“ auf dem Plane erscheint. Dann möch­te niemand daheim bleiben: ein ausverkauftes Haus lohnt alsdann für alle Anstrengungen der Einstudierung.

Nur einer durfte die Frucht seiner Arbeit nicht ernten, unser allver­ehrter Kapellmeister Paul Belker. Schwere Krankheit hielt ihn fern. An seiner Stelle war in letzter Stunde ein Berufener eingesprungen, Richard Liesche, der einst den Ruf Flensburgs als Musikstadt begründete. Unter seiner energiesprühenden Führung verlief die Aufführung glänzend; was im Augenblick menschenmöglich war, hat er aus den Mitwirkenden herausgeholt. In die Partitur selbst trug er manch eigenen Zug hinein. Geleitet von dem Streben nach leiden­schaftlichstem Ausdruck und dennoch nach Klarheit und Ordnung, disponierte er scharf und übersichtlich, hielt zurück, trieb vorwärts, teilte ab, verband, setzte zu, je nachdem es ihn sinnvoll dünkte.

Der Chor gab, was er geben konnte, er folgte den Vorschriften seines Lenkers mit peinlicher Disziplin. Belkers emsige und metho­dische Schulung hat Großes gewirkt, die Tonbildung ist noch mannig­faltiger und flüssiger geworden und das Vermögen, Wort- und Ge­sangton auf eine gemeinsame Basis zu stellen, erheblich gestiegen. Die überwältigende, technisch wie geistig virtuose Aufführung wird man als eine bleibende Ruhmestat in den Annalen des Chores ver­zeichnen dürfen.

An der Spitze des Soloquartetts stand eine der süßesten, beseel­testen Stimmen der jüngeren Sängergeneration, die Schweizerin Helene Fahrni. Sie sang die schwierige, stimmlich und musikalisch das Letzte beanspruchende Partie unbeschreiblich schön und innig. Hoffentlich kehrt sie recht bald einmal zu uns zurück. Die Altpartie versorgte eine in Kiel wohlbekannte Künstlerin: Gusta Hammer. Ihr wundervoll tembriertes Organ paßte vorzüglich zu dem leidenschaft­lichen Ausdruck, den Beethoven gerade in der „Missa solemnis“ ver­langt. Einen strahlenden, gegen früher erheblich an Glanz und Aus­druck gesteigerten Tenor setzte Heinz Marten ein. An den Stellen, die Beethoven ihm losgetrennt von den übrigen gegeben hat, zeigte sich die Stimme schlackenlos in all ihrer Weichheit und Leuchtkraft und verklärte ihre Musik mit dem Schimmer reiner, schlichter Schönheit. Auch der Baß Fred Drissens ist ausgesprochen biegsam und schönklingend, spricht leicht an und trägt dennoch weit und wird von einem sattelfesten Musikanten und zugleich poetischen Kopfe bedient und gelenkt. So wie sie sind, ergeben die vier ein geradezu ideales Soloquartett.

Aber man soll über all dem auch die Rolle des Orchesters nicht vergessen, das sich mit seltener Begeisterung für seine heikle Aufgabe einsetzte. Da sich jede einzelne Instrumentengruppe mit fiebernder Besessenheit für die Eigenheiten der Partitur einsetzte, so ergab sich ein Gesamtbild des Werkes, wie es an Treue kaum zu übertreffen sein dürfte. Ein Juwel von besonderer Köstlichkeit war dabei das Violinsolo, von Lothar Ritterhoffs Hand ganz herrlich gespielt.

Und so wollte am Schluß der Beifall kein Ende nehmen. Immer wieder mußten Dirigent und Solisten an der Rampe erscheinen. Dr. Bernhard Engelke.

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