Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 21.06.1950

Sinfonie der Freude - Sinfonie der Tragik

Paul Belker dirigierte als Abschiedskonzert die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven

Die Möglichkeit, Beethovens 9. Sinfonie anläßlich einer Aufführung als Kunstwerk zu analysieren, einzuordnen und zu einem musikali­schen Geschehen der Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung zu setzen, bleibt dem Publikationsmittel einer Tageszeitung durch die Vielschichtigkeit der Materie versagt. In ihrem relativ engen Rahmen bleibt nur weniges zu sagen: Die „Neunte“ ist der End- und Höhe­punkt in der Entwicklung der Sinfonik bis zum Beginn der „Neuen Musik“, die unter anderen Gesetzen steht. Brahms, Bruckner und Mahler überschreiten diesen Höhepunkt nicht mehr, verarbeiten und verfeinern nur die letzten großen formalen und stilistischen Anregun­gen, die Beethoven ihnen damit fast lapidar hinwirft. (Formfreiheiten, die Längen des Periodenbaues, neue harmonische Effekte und schließlich die Verwendung der menschlichen Stimme als notwendiges und unvermeidbares, das Instrumentarium krönendes Ausdrucks­mittel des anders nicht mehr auszusagenden musikalischen und geistigen Gehaltes.) Selbst der modernsten Instrumentationstechnik sind hier bereits Vorbilder gegeben: zum Beispiel wenn in durchsich­tig-dünne, kammermusikalische Besetzung unvermittelt und bizarr die Pauke hämmert.

Das berühmte „Freude-Thema“ ist die letzte Ausflucht aus der unverkennbar tragischen Grundkonzeption der ersten drei Sätze, die sich mit Beginn des vierten noch vertieft. Es ist ein bitterer, überstei­gerter Ausbruch aus den Regionen der menschlichen Verzweiflung, des unausweichbaren persönlichen Schicksals: der Taubheit. Es ist der letzte Versuch, in eine Welt vorzustoßen, die Beethoven selbst nicht mehr gemäß ist. Er wiederholt ihn nie mehr — in den letzten Kammermusikwerken findet sich kein leisester Ansatz dazu — und er hat damit gezögert, bis es fast zu spät war. Die Konzeption zur Ode an die Freude reicht viele Jahre vor die endliche Entstehung der Komposition und ihre Einordnung in diese Sinfonie zurück, die so oft fälschlich als „Sinfonie der Freude“ bezeichnet wird und die doch durch die fast unter dem Zwang zu dieser Freude stehende Ueber­höhung der Schillerschen Ode erst das klare, kantige Profil der echten Tragik gewinnt. Die furchtbaren Widersprüche in diesem Werk aber bestimmen mit seine Größe, eine Größe, die unveränderlich und befruchtend über die Wendepunkte aller stilistischen Epochen und Entwicklungen strahlt.

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Die Aufführung dieser Sinfonie vermittelte den Gästen der Kieler Woche ein zutreffendes und lebendiges Bild der Musikpflege der Landeshauptstadt — dem Kieler Publikum gab sie Gelegenheit, noch einmal die künstlerische Arbeit Paul Belkers zu würdigen, der sich mit diesem Konzert nach 13jähriger Tätigkeit als städtischer Musikdirektor von Kiel verabschiedete. Er spannte das riesige Tongemälde mit souveräner Sicherheit und Ruhe unter einen geschlossenen Bogen, ohne das geringste Detail zu vernachlässigen und legte es an, als stünde es als Ganzes unter einem kaum merkbar, doch stetig sich weitenden Crescendo-Zeichen, das nicht nur die Ton-, sondern auch die Ausdrucksstärke bestimmte. So wurde der Schlußchor zum Höhe­punkt nicht nur des Werkes, sondern auch der Aufführung, deren Ergebnis die Qualitäten des Orchesters, der Chöre und der Solisten wesentlich mitbestimmten. Die Besetzung des Solisten-Quartetts zeigte ausschließlich Namen aus dem Ensemble der Staatsoper Ham­burg (Clara Ebers, Gusta Hammer, Helmuth Melchert und Georg Mund) und erfüllte die schwierigen Bedingungen der Partien mit erlesener Stimmkultur und Musikalität. Die Chöre (der Städtische Chor und der Chor der Städtischen Bühnen) leisteten in der Einstudierung durch Dr. Karl Howe hervorragende künstlerische Arbeit.

Der außerordentlich herzliche Dank des Publikums an Paul Belker umschloß nicht nur diese Aufführung. Er galt auch der unübersehbar langen Reihe von Konzertabenden, die es der intensiven Arbeit und der künstlerischen Leistung dieses Dirigenten zu verdanken hatte. Dieser Dank erfuhr seine Formulierung durch die Abschiedsworte der Herren Brede (erster Vorsitzender des VdM), Jeimke (Vorstand des Orchesters), Schulz (Obmann des Chors der Städtischen Bühnen) und Richter (Vorstand des Städtischen Chors) — und seinen offiziellen Ausdruck durch die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Städti­schen Chores Kiel an den Dirigenten, eine Ehrung, die vom Publikum mit nochmaligem großen Beifall quittiert wurde. S.M.

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