Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 17.05.1961

Verzweifeltes Glaubensbekenntnis

Zur Aufführung der „Missa solemnis“ im 9. Sinfoniekonzert des VdM

. . . und blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.

1. Mose, 32, 25

Beethovens Komposition des Messetextes sprengt die Liturgie. Im kirchlichen Bereich hat diese persönlichste, ekstatisch-visionäre Durchdringung des sakralen Wortes keinen Raum. Hier ist nicht Maß, nicht Unterordnung. Gewaltig, unumstößlich, fast eine Herausforde­rung scheint die Kraft des verdoppelten „credo“ (ach, diese Dinge, die wir zweimal bestätigen, weil wir ihrer nicht sicher sind) — und das Glaubensbekenntnis schließt mit einer verzweifelten Fuge über das ewige Leben (et vitam venturi), einer Fuge, der man die Bestürzung des „Titanen“ anhört, nicht mit dem großen Glauben und der großen Handwerkskunst Bachs gesegnet zu sein. Selbst in der reinen Anbe­tung (Sanctus) schwingt bei Beethoven die Angst vor dem göttlichen Geheimnis. Der Einsame ringt mit Gott, wie Jakob an der Furt des Jabbok — aber immer wieder wird die Morgenröte seiner Hoffnung von der Nacht seiner Furcht überwältigt, aus der endlich, unbefriedet, sein Schrei nach Frieden dringt.

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Beethovens Komposition des Messetextes sprengt auch (in den meisten Fällen) das konzertmäßige Musizieren. Die tiefste Erschütte­rung dieses Werkes, seine diesseitige Jenseitigkeit — wenn man so sagen darf — vermag kaum ein Ensemble auszudrücken, weil in (fast) jedem Ensemble der Durchschnitt überwiegt. Der Durchschnitt aber, sogar der gute Durchschnitt sowohl der Instrumentalisten als auch der Vokalsolisten und Chorsänger, wird diesen Beethovenschen Visionen nie bis in die letzte Furcht, bis in die letzte Entrückung folgen können. Denn die Missa solemnis verlangt, anders als jede Sinfonie, eine Gefühls-Interpretation, die weit über den musikalischen Ausdruck hinausreicht. Und nahezu immer hat die Summe der Musikanten genug damit zu tun, im schwierig Musikalischen zu interpretieren.

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Das neunte und Saison-letzte Sinfoniekonzert des VdM brachte unter der Leitung von Niklaus Aeschbacher eine sehr gute, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten sogar ausgezeichnete Wiedergabe der Missa. Aber die spürbare Gefühls-Intensität des Dirigenten übertrug sich nur auf einen dafür prädestinierten Teil der Ausführungen: auf zu wenige also, die vermochten, die Beethovenschen „Himmelfahrten und Höllenstürze“ über das Musikalische hinaus nachzuempfinden. Rein musikalisch gesehen war die Aufführung nahezu makellos. Hans Feldigl hatte die Chöre in den rhythmischen und dynamischen Datails werkentsprechend sehr genau studiert, und der Städtische Chor zeig­te sich diesen Anforderungen so gut gewachsen, wie das Orchester seinem ebenso präzis vorbereiteten Part. Der Ausdruck war diesem technischen Können nicht immer adäquat, obgleich Aeschbacher mit dem Apparat der Musikanten fast so verbissen darum rang, wie Jakob und Beethoven mit ihrem Gott gerungen hatten. Gelegentlich er­zwang der Dirigent sogar die Ueberlegenheit: wenn das Solisten­quartett seine Intentionen übernahm und den allzu vordergründig musizierenden Chor in die sekundäre Rolle drängte — oder in der Ueberleitung vom Sanctus zum Benedictus, wo Lothar Ritterhoff mehr als musikalischen Ausdruck gab, sich aber nicht ganz aus den Fesseln der trotz des Dirigenten aufs Ordentlich-Musikalische beschränkten Gesamtaufführung lösen konnte. — Nicht so gut, weil nicht erfühlt, nicht genügend dramatisch, gelangen die Drohungen der Trompeten im Agnus Dei: da fehlte es an Schärfe des Ausdrucks; das Entsetzen des Krieges, Furcht und Schrecken blieben hier zurück vor dem Bemü­hen um möglichst saubere, differenzierte Töne. Großartig dagegen war diesmal die Pauke: zurückhaltend untergründig, drohend geheim­nisvoll.

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Die Solisten hatten großes Format. Nur Marlies Siemeling breitete ihren hochdramatischen Sopran (der in der Höhe durch allzu starkes Tremolo, in der Mittellage durch ein Von-unten-Ansingen der Töne an Ausdruckskraft verlor) etwas zu Brünhildenhaft aus. Gertrude Pitzin­ger bewies ihr gestalterisches Format vor allem durch noble Zurück­haltung; Dem ersten Rezitativ des Agnus dei aber gab sie bestechen­de dramatische Kraft. Theo Altmeyer verfügt über einen herrlich kulti­vierten, kraftvollen Tenor, der im „et homo factus est“ (und Mensch geworden) neben hinreißender Ausdruckskraft seinen ganzen Glanz offenbart, und Hans-Olaf Hudemann zeigte wieder die leuchtend ausdrucksvolle Fülle seines Basses.

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Alles in allem: die musikalische Sicherheit und Sauberkeit der Wiedergabe kann man von einem Städtischen Orchester, von einem Städtischen Chor heute erwarten. Die tiefe Zerrissenheit Beethovens, seinen qualvollen Zweifel, seine Entzückungen und Aengste nach­leidend zu interpretieren — das gelingt wohl nur noch in Notzeiten. Nur dann, wenn ein Dirigent, der weiß, wie schwer es ist, das Glaubensbekenntnis zu sprechen, über ein Ausdrucksmittel verfügt, dessen Instrumente ahnen, wie schwer es ist, dieses Bekenntnis auch nur zu begreifen. S. M.

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Siehe auch: R. B. oder Dr. Hellmut Steger

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