Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 27.04.1960

Sutermeisters „Missa da Requiem“

Zum IX. Konzert des Kieler VdM mit dem Städtischen Chor

Niklaus Aeschbacher kommt das Verdienst zu, in den Konzerten mit dem Städtischen Chor endlich die Moderne wieder zu ihrem Recht gebracht zu haben. Während unter seinem Vorgänger lediglich die berühmten und publikumssicheren Chorwerke von Händel bis Brahms und Verdi gesungen wurden, brachte Aeschbacher im ersten Jahr seiner Kieler Tätigkeit gleich zwei moderne Chorkompositionen zur Aufführung. Auf Strawinskys „Psalmensinfonie“ im letzten Herbst ließ er jetzt Heinrich Sutermeisters „Missa da Requiem“ folgen — auf ein bedeutendes Werk der klassischen Moderne ein sehr viel jüngeres Werk, das klingt, als sei es sehr viel älter.

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Sutermeister gehört zu den Komponisten, die man gern — und dabei sehr zu Unrecht mit leise abwertendem Unterton — als die „gemäßigten Modernen“ bezeichnet, die über Spätromantik und Impresionismus hinausgegangen sind ohne auf der „Bewußtseins­höhe“ der Neuen Musik, wie Adorno in stolzer Einseitigkeit einmal formuliert hat, anzukommen. Zwischen Pfitzner und Orff etwa liegen Sutermeisters Vorbilder; und Pfitznersche Harmonik wie Orffsche Rhythmik kann man auch in der „Missa da Requiem“ finden. Um Miß­verständnissen vorzubeugen: Es sind nicht verschiedene Stile, die Sutermeister kopiert, es sind verschiedene Stilmittel, die er anwendet und zu einem in sich durchaus homogenen eigenen Stil zusammen­fügt. Mehr äußerliche dramatische Intensität (mit kraftvoller Zuspit­zung im „Dies irae“ und im „Sanctus“) als innerliche Frömmigkeit, mehr Glaubens-Demonstration als Glaubens-Bekenntnis sind die Kennzei­chen dieser „Missa da Requiem“ (die übrigens nicht identisch ist mit einem später entstandenen — zweiten — „Requiem“, das bei den Berliner Festwochen 1960 seine deutsche Erstaufführung erleben wird). Das Werk erfordert einen gewaltigen Apparat, ein Orchester mit viel Blech, einen großen Chor, und die nicht gerade sparsamen Klang­mittel werden von Sutermeister auch nicht gerade sparsam einge­setzt. Fortissimo-Wirkungen von Chor und Orchester herrschen vor, durch vorsichtige Reizklänge und Dissonanzen „interessant“ gemacht, und oft geht es recht lärmend zu, manches allerdings — wie der leise verhallende Schluß — ist auch dynamisch fein abgestuft. Man kommt, im ganzen betrachtet, nicht ganz von dem Gefühl los, als sei dieses Requiem mehr Kunsthandwerk als Kunst, als habe es mehr äußere als innere Monumentalität. Es gibt da einige Stellen von unglaublicher Banalität, und die letzte Ueberzeugungskraft fehlt insgesamt. Trotz­dem, die „Missa da Requiem“ ist auf alle Fälle geschickt gemacht, nie­mals langweilig, in sich geschlossen und von starker Ausddruckskraft.

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Niklaus Aeschbacher setzte sich mit großem Elan und sicherer Beherrschung des großen Klangkörpers für das Werk seines schwei­zerischen Landsmannes ein. Die Aufführung hatte großes Format. Sie war prägnant im Klanglichen, präzise im Rhythmischen, kontrastreich im Dynamischen, temperamentvoll in den Tempi. Das Städtische Orchester und der von Hans Feldigl offensichtlich mit viel Sorgfalt einstudierte Städtische Chor zeigten sich den immensen technischen Schwierigkeiten voll gewachsen und reagierten sehr sicher. Die nicht sehr umfangreichen Solopartien wurden von der Sopranistin Marianne Fischer, die mit ihrem schönen Timbre ihrer Partie beinahe mehr Aus­druck gab als sie eigentlich hat, und dem ausgezeichneten Baß-Bari­ton Donald Bell, dem Bayreuther Nachtwächter (in den „Meistersin­gern“ natürlich nur) gesungen. Bell ist ein kultivierter, nobler Sänger von äußerster stilistischer und künstlerischer Sauberkeit und herr­lichem, klug eingesetzten Material. Leider war das Volumen dieser Stimme den Sutermeister-Klangfluten nicht immer gewachsen.

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Der „Missa da Requiem“ Sutermeisters ging, um das Konzert auf die normale Zwei-Stunden-Länge zu bringen, Haydns „Paukenmesse“ voran, die, wie die anderen vierzehn Messen Haydns im katholischen Gottesdienst noch häufig gespielt wird, aus den Konzertsälen aber völlig verschwunden ist. Der fröhlich-diesseitige Charakter dieser unproblematischen Musik, die einst ob ihrer Heiterkeit vom Wiener Erzbischof verboten wurde, wurde von Aeschbacher durch bewußt zügige vorwärtsdrängende Tempi, die dem kraftvoll und mit Glanz singenden Chor anscheinend besser lagen als dem Orchester, nach­drücklich betont. Zu den Sutermeister-Solisten gesellten sich in kleinen Solo-Partien der (sehr) lyrische Tenor Theo Altmeyer und die Altistin Hildegard Rütgers, deren dunkel getöntes Material sehr trag­fähig ist und schön behandelt wird. Der Beifall nach der Haydn-Messe war groß; nach dem (eigentlich auch für konservative Ohren nicht übermäßig strapazierenden) Sutermeister-Requiem aber nicht so groß, wie es sich für diesen würdigen, vom Werk her interessanten und von der Aufführung her imposanten Abschluß des diesjahrigen Abonnements-Zyklus gehört hätte. (P. D.)

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Lübecker Nachrichten, 27.04.1960

Aus dem Kieler Musikleben

Ein Requiem von Sutermeister

Im 9. und letzten Sinfoniekonzert brachte Niklaus Aeschba­cher neben der Paukenmesse von Haydn als norddeutsche Erst­aufführung die „Missa da Requiem“ von seinem Freunde Heinrich Sutermeister. Das Haydn-Werk bekam in den bewegten Teilen Akzen­te einer nicht ganz gerechtfertigten Dramatik, die ihm etwas wunder­lich zu Gesichte stand. Auch war der Kontakt zu dem Chore nicht immer ganz gesichert. Aber Sutermeisters, in großen Kontrastflächen gebautes „Requiem“ erhielt eine hervorragende, bis zur letzten Note erfüllte Wiedergabe. Endlich einmal ging Aeschbacher ganz aus sich heraus, musizierte voll, zügig und aus einem Guß, ohne Schablone und dünne Stellen. Er war selbst gepackt und riß auch alle Hörer in den Bann eines modern-kirchlichen Werkes, das zum mindesten in seiner glänzenden Faktur, in den reichen Orchesterfarben, aber auch in der starken seelischen Erfüllung große Beachtung verdient. Es ist nicht ganz leicht, Sutermeister gerecht zu werden. Stets empfindet man, daß er bewußt und als Könner alle Mittel, auch jeden Effekt zur Steigerung miteinbaut. Andererseits läßt sein hochempfindlicher Kunstverstand ihn Höhepunkte entwickeln, die fast erschrecken, da Verstand und stärkste Leidenschaft sie hochpeitschen und diese Mischung aus heiß und kalt eine Art von kühler Ekstatik ergibt.

Hauptträger des Abends war neben dem gut spielenden Orchester der „Städtische Chor“, den Hans Feldigl liebevoll und fachgerecht zu größter Sicherheit einstudiert hatte. Wir bedauern dieses Mal nur die „Geringstimmigkeit“ der männlichen Sänger. — Sicherlich weiß man im Kulturamt der Landeshauptstadt, daß ein solcher Klangkörper, eine solche Sing- und Arbeitsfreudigkeit kaum mit Gold aufzuwiegen und für die Stadt von kultureller Bedeutung schlechthin ist. Ein Chor, der ein so schwieriges Werk so überlegen singen kann, dürfte auf jedem Sängerfest ehrenvoll bestehen.

Mit der Wucht und Zartheit dieses Chorwerkes hat sich Aeschba­cher Hochachtung errungen und seinem Schweizer Landsmann einen großen Dienst erwiesen.

Dr. Hellmuth Steger

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Siehe auch: R. B.

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