Volkszeitung, 06.10.1959
MIXTUM COMPOSITUM
Zum zweiten VdM-Sinfoniekonzert des Städtischen Orchesters Kiel
Den offiziellen Abschluß der „Kieler Tage zeitgenössischer Kunst“ bildete das zweite Sinfoniekonzert der Saison, dessen Programm aus diesem Anlaß zwei Erstaufführungen aufwies: „Symphonische Variationen über ein Thema von Heinrich Schütz“ von Johann Nepomuk David, und die „Psalmensinfonie“ von Igor Strawinsky — eine nicht allzu glücklich gewählte Kombination. Die c-moll-Sinfonie des neunzehnjährigen Schubert leitete den Abend ein. Das Ganze war ein Mixtum compositum — zu deutsch: Mischmasch — mit dem in schöner Deutlichkeit demonstriert wurde, was nicht zusammenpaßt.
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Schuberts noch nicht ganz eigenständige „tragische“ (in Wirklichkeit ist sie eher pathetisch) schien mir diesmal besonders breit und langatmig. Sicher war sie sorgfältig gearbeitet; was ihr fehlte, war die aktive innere Beteiligung des Orchesters, das auf weite Strecken ohne Wärme musizierte und nicht mehr als seinen „Pflichtteil“ gab — vielleicht im (Unter-?)Bewußtsein der Strapazen, die ihm noch bevorstanden . . .
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. . . und die es mit bewundernswertem Können überwand. Davids Schütz-Variationen sind, grob gesagt, ein harter (und zäher) Brocken. Sie sind mit satztechnischer Akribie gebaut, spiegeln ihr gelehrt verarbeitetes Thema in feinsten Facetten und — wie bei David selbstverständlich — mit feierlichem Ernst. Die ganze Seriosität des Werkes kann aber nicht verdecken, daß es ihm an rhythmischer und klanglicher Erfindungsgabe fehlt, daß seine Harmonisierung häufig krampfhaft erscheint, daß diese ganze Koppelung von — „polyphonem Geist“ und „modernem Zeitbewußtsein“ eben auch wieder nur ein Mixtum compositum und keineswegs eine Synthese ist. Die Wiedergabe des spieltechnisch sehr schwierigen Stückes war ausgezeichnet, durchsichtig (soweit möglich), im Ganzen mehr auf Werktreue als auf Intensität bedacht.
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Daß — in Größenverhältnissen ausgedrückt — dieser David neben dem Goliath Strawinsky dürftig erscheinen mußte, war vorauszusehen. Die Aufführung der „Psalmensinfonie“ — lange geplant, endlich erreicht — vermittelte trotz einiger Unzulänglichkeiten durchaus einen Eindruck von dem gewaltigen Werk. Für den Städtischen Chor und das (in den Bläsern verstärkte) Orchester bedeutete die Wiedergabe das Ergebnis einer enormen Arbeitsleistung. Jetzt noch drei Monate intensiver gemeinsamer Probenarbeit — und es käme vielleicht auch noch der nötige Ausdruck hinein. Daran nämlich fehlte es. Es fehlten die feinen Differenzierungen — vor allem in der Dynamik — und es fehlten die großen, mitreißenden Impulse. Der von Hans Feldigl vorzüglich studierte Chor sang seinen schwierigen Part bemerkenswert sauber in der Intonation, auch rhythmisch sehr genau, doch mangelte es natürlich an Fülle und Glanz in den quantitativ zu geringen Männerstimmen, auch an Deutlichkeit der Artikulation und eben vor allem an dynamischer Subtilität. Auch waren gelegentlich Atem-Cäsuren nötig, wo sie leider nicht hingehörten. Im Orchester waren Celli und Bässe — ebenfalls durch die geringe Besetzung — nicht ganz ausreichend; auch von den Klavieren hörte man sehr wenig. Hervorragend: Bläser und Schlagzeug.
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Niklaus Aeschbacher leitete das Konzert mit absoluter Sicherheit und Solidität. Natürlich muß er als gewissenhafter Orchesterleiter auf dem Standpunkt stehen, die tadellose Ausführung des Meß- und Wägbaren einer Partitur rangiere vor jedem inspirativen Moment der Interpretation. Die Bemühung um Genauigkeit stand in diesem Konzert aber so weit im Vordergrund, daß es zur Inspiration nicht mehr ganz reichte. Mir ist lieber, es geht in Kleinigkeiten hier und da etwas daneben (was in minimalen Grenzen bei solchen Werken ohnehin unvermeidbar ist), aber der große Atem der Kompositionen wird lebendig: die allzujunge Leidenschaft dieses sich noch an Beethoven klammernden Schubert, der ehrfurchtheischende (Peepercornsche) Bruckner-Aplomb dieses David, das kalte Feuer des intellektuellen und doch von tiefer Frömmigkeit besessenen Strawinsky. Das alles war nur gelegentlich in kleinen Ansätzen spürbar.
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Die Zuhörer reagierten mit Wohlwollen, ohne Begeisterung. Die lange und intensive Arbeit der Interpreten hätte stärkere Anerkennung verdient. S. M.
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Siehe auch: R. B.