Philharmonischer Chor Kiel

Volkszeitung, 02.01.1963

Die musikalische Freudenfeier

Zur Silvesteraufführung der Neunten unter Niklaus Aeschbacher

Wenn ein Politiker kürzlich auf einer Versammlung ernstlich erklä­ren konnte, wir Deutschen seien das Volk des Bamberger Reiters, der Neunten Sinfonie und des kategorischen Imperativs, dann ist damit schon ausgedrückt, welchen Mißverständnissen Beethovens letzte Sinfonie bis heute immer wieder ausgesetzt ist. Weihestück für den Feiertag, geheimnisvoller Gipfelpunkt der Musik, darum geradewegs „die Neunte“ genannt (obwohl es auch andere große Komponisten auf neun oder mehr Sinfonien gebracht haben) — so wurde sie Gene­rationen lang vom Publikum empfunden, und so, pathetisch-würde­voll, auf Stelzen einhergehend, wurde sie auch Generationen lang dirigiert, freilich nicht von den besten, aber immerhin von den meisten Dirigenten. Daß eine solche Auffassung des Werkes mehr von den Worten der Ode Schillers als von den Noten Beethovens inspiriert war, wurde dabei meist vergessen. Heute, gottlob, sind wir, durch große Beispiele wie das Toscaninis angeleitet, schon eher innerlich bereit, den weltanschaulich-literarisch-romantischen Ballast, der sich ums Werk gelegt hat, fortzutun und uns auf die musikalischen Strukturen der Sinfonie und nur auf sie zu besinnen. Auch Niklaus Aeschbacher tat das in seiner im besten Sinne modernen Aufführung der Neunten. Hier wurde musiziert und nicht zelebriert. Das Exemplarische an dieser Wiedergabe war, daß nichts an ihr exemplarisch war. Die Neunte — hier ward sie zum musikalischen Ereignis und zu nichts mehr. So wie es sein soll.

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Spätestens vom zweiten Satz an wurden die Absichten des Diri­genten deutlich. Während es im ersten Satz beinahe schien, als habe er gegen das Orchester statt mit dem Orchester zu arbeiten, und der Satz wenig Konsistenz erhielt, bekam das Scherzo mit den markigen Paukensoli Peter Porallas schärfstes Profil. Außerordentlich schnelle Tempi, im großen, so schien es, an Toscanini orientiert, im einzelnen aber durchaus eigenständig, bestimmten das Bild, eine temperament­volle Lebhaftigkeit, die fast bis ins Rhythmisch-Ekstatische drängte. Im Adagio war die „cantabile“-Vorschrift endlich einmal ernst genom­men. Es atmete arkadische Ruhe, ein abgeklärt-melodisches Singen der Streicher hob an, bei aller Gemessenheit von atmender innerer Spannung. Organisch erwuchs der vierte Satz aus den vorangegan­genen. Auch hier keine dramatische Apotheose, kein verzücktes Aufbegehren und kein orgiastischer Freudentaumel, keine schroffen Kontraste und keine dynamischen Härten, sondern ein strahlendes, niemals übersteigertes, aber sich bis zum Jubel der Finalstretta immer mehr steigerndes Musizieren.

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Gemessen an den Schwierigkeiten, mit denen der Chorsatz gespickt ist, und die Mendelssohn aus seiner Dirigenten-Erfahrung heraus zu dem Stoßseufzer brachten, er könne an keinem Ort „gut gehen“, bewältigten der Städtische Chor und der Opernchor, volumi­nös und intonationssicher, ihre Aufgabe prächtig. Im Solistenquartett dominierte Leonore Kirschsteins heller, intensiv-ausdrucksvoller Sopran über den an diesem Abend recht blassen Alt von Gisela Litz. Sergej Maurer war im Alla marcia ein strahlender „Held zum Siegen“ mit gesunden Staccato-Höhen, und Gerd Nienstedt, der unverges­sene Gurnemanz der letztenKieler „Parsifal“-Aufführung, verkündete die Freudenbotschaft ausdrucks- und würdevoll.

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Der Beifall im festlich gestimmten großen Haus für die Gesangs­solisten, für den Chor, das Orchester und, besonders betont und besonders berechtigt, für Aeschbacher war stürmisch. Die letzte Tat des Theaters im alten Jahr war zugleich eine seiner schönsten. Die Idee, eine alte Tradition wieder aufzunehmen und den Silvesterabend der Neunten vorzubehalten, hat sich, auch was die Resonanz beim Publikum betrifft, als glücklich erwiesen. Auch in Zukunft sollte Beethovens musikalische Freudenfeier jetzt alle Jahre wieder das Theaterjahr beschließen. P. D.

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Siehe auch: ro

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